Daughter of Smoke and Bone
sich so ohnmächtig wie Sternenlicht vor der Sonne. Sie kämpfte dagegen an, versuchte sich zu befreien.
Mit tiefer, heiserer Stimme sagte der Engel: »Ich werde dir nichts tun. Dass ich dich verletzt habe, tut mir leid. Bitte glaub mir, Karou. Ich bin nicht hergekommen, um dir weh zu tun.«
Sie erschrak, als sie ihren Namen aus seinem Mund hörte, und hörte auf, sich zu wehren. Woher wusste er ihren Namen? »Warum bist du dann gekommen?«, fragte sie.
Auf seinem Gesicht erschien ein hilfloser Ausdruck. »Ich weiß es nicht«, antwortete er auch dieses Mal, aber jetzt kam es ihr nicht mehr seltsam vor. »Nur … nur um zu reden«, fuhr er fort. »Um zu verstehen, was … was …« Er fand nicht die richtigen Worte, doch Karou meinte zu wissen, was er sagen wollte, denn auch sie versuchte es ja zu verstehen.
»Ich halte deine Magie nicht mehr aus«, gestand er, und sie wurde sich erneut bewusst, wie sie ihm zugesetzt hatte. Sie hatte ihn wirklich verletzt.
Richtig so
, sagte sie sich. Er war ihr Feind. Die Hitze in ihren Händen bestätigte es ihr. Ihre Narben bestätigten es und ihr zerrissenes Leben. Aber ihr Körper wollte nicht darauf hören. Alles, was für ihn zählte, war die Berührung seiner Hände.
»Aber ich werde dich nicht aufhalten«, raunte er. »Wenn du dich an mir rächen willst … Ich habe es nicht besser verdient.«
Er ließ sie los. Seine Hitze fiel von ihr ab, und die Nacht breitete sich zwischen ihnen aus, kälter als zuvor.
Sie ballte die Fäuste, um ihre Hamsas zu verdecken, und wich zurück. Sie nahm kaum noch wahr, dass sie schwebte, bis ihr Blick nach unten fiel.
Lieber Himmel. Was war das?
Vage wurde ihr bewusst, dass unzählige Augenpaare zu ihr emporstarrten und dass sich immer mehr Schaulustige zu der versammelten Menschenmasse gesellten, als wären die Touristenströme auf der Karlova in diese kleine Seitengasse umgeleitet worden. Karou ahnte, wie die Leute auf sie zeigten, wie sie staunten, sah die Blitzlichter, hörte die aufgeregten Rufe, aber es war alles gedämpft, sehr gedämpft, als würde es sich auf einer Leinwand abspielen, weniger real als der Moment, den sie selbst erlebte.
Etwas Unbeschreibliches war passiert. Als der Seraph ihre Hand losgelassen hatte, war ihr klargeworden, dass seine Berührung sie
ausgefüllt
hatte. Sobald er sich von ihr gelöst hatte, war die Leere zurückgekehrt, kalt und schmerzhaft, ein Vakuum voller Sehnsucht – so voller Sehnsucht. Um ein Haar hätte sie die Hände des Engels ergriffen, aber so verzweifelt sie sich auch danach sehnte, kämpfte sie den Drang nieder. Das Gefühl war ihr nicht geheuer, dieses Gefühl, als würde sie sich gegen die Gezeiten stellen, diese Angst, in den schwarzen Fluten unterzugehen und zu ertrinken.
Panik ergriff sie.
Als der Engel sich auf sie zu bewegte, hob sie die Hände, beide, und aus nächster Nähe. Seine Augen weiteten sich, und er wankte in der Luft, als hätte ihn plötzlich alle Kraft, alle Anmut verlassen. Karou stockte der Atem. Er versuchte, sich am Rahmen eines Fensters im vierten Stock festzuhalten, und scheiterte.
Seine Augen rollten zurück, und er verlor schnell an Höhe. Funken stoben. Wurde er ohnmächtig? »Alles in Ordnung?«, fragte Karou, und ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Aber natürlich war er nicht in Ordnung. Und dann stürzte er ab.
***
Vage nahm Akiva zur Kenntnis, dass er nicht mehr in der Luft war. Unter ihm kalter Stein, vor ihm unbekannte Gesichter. Langsam kehrte sein Bewusstsein zurück, er hörte Rufe in einer Sprache, die er nicht verstand, und am Rand seines Gesichtsfeldes sah er etwas Blaues. Karou! Ein ohrenbetäubender Lärm drang an sein Ohr, und als er sich mühsam aufrappelte, begriff er auch, was es war: Applaus.
Karou, die mit dem Rücken zu ihm stand, verbeugte sich tief wie im Theater. Mit großer Geste zog sie ihr Messer aus der Ritze zwischen den Kopfsteinen und steckte es in ihren Stiefel zurück. Vorsichtig spähte sie über die Schulter zu Akiva und wirkte erleichtert, als sie feststellte, dass er wieder bei Bewusstsein war. Dann trat sie zurück und nahm zu seiner Überraschung seine Hand. Sorgsam darauf bedacht, ihn nur mit den Fingerspitzen und keinesfalls mit ihren Tätowierungen zu berühren, half sie ihm auf die Füße und raunte ihm ins Ohr: »Verbeug dich.«
»Was?«
»Verbeug dich einfach, okay? Lass sie denken, dass das nur eine Vorführung war. So kommen wir leichter davon. Sollen sie sich doch selbst überlegen, wie wir
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