Daughter of Smoke and Bone
ihn.
Sie musste springen, um mit den Händen seinen Hals zu packen – er war groß, mindestens eins neunzig –, warf sich mit voller Wucht gegen ihn und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. An ihn geklammert spürte sie sofort, was sie nicht sehen konnte: die Hitze und Massivität seiner Flügel, unsichtbar, aber real. Auch die Wärme und Breite seiner Schultern spürte sie und war sich seiner gewaltigen Kraft nur allzu bewusst, während sie ihm ihr Messer an die Kehle hielt.
»Suchst du mich?«
»Warte …«, rief er, ohne Anstalten zu machen, sie abzuwerfen oder sich zu wehren.
»Warte?«
, spottete Karou und drückte, einem Impuls folgend, das Hamsa ihrer freien Hand auf die ungeschützte Haut im Nacken des Engels.
Genau wie in Marokko, als sie zum ersten Mal die unbekannte Magie ihrer Hamsas auf ihn gerichtet hatte, passierte etwas. Damals war er durch die Luft geschleudert worden. Doch dieses Mal traf ihn die schreckliche Gewalt nicht wie eine Sturmbö – nein, sie drang in ihn ein. Als Karous Tattoo ihn berührte, war es, als fühlte sie in seiner Haut einen Schrei, der seinen ganzen Körper durchzuckte und in ihrem eigenen Arm widerhallte, in ihr Innerstes vordrang. Ihr Kopf dröhnte, als wollte er zerspringen. Es war grausam. Und das schon für sie.
Für ihn war es ungleich schlimmer. Krämpfe erschütterten seine kraftvolle Gestalt, so heftig, dass Karou sich nur noch mit Müh und Not an ihm festklammern konnte. Er rang nach Luft. Was war das für eine Magie, die ihn so zurichtete? Krank fühlte sie sich an, krank und falsch. Der Engel taumelte und versuchte, noch immer von heftigen Zuckungen geschüttelt, ihre Hand von seinem Nacken zu lösen, aber seine Finger zitterten zu sehr. Die Haut unter Karous Hand war glatt und heiß, so heiß, so unglaublich heiß, und die Hitze schwoll unablässig an, ebenso wie die Hitze seiner Flügel – ein Feuer, das vollkommen außer Kontrolle geraten war.
Feuer, unsichtbares Feuer.
Karou hielt es nicht länger aus. Ihre Handfläche, in der die Hitze einen stechenden Schmerz hinterließ, löste sich von seinem Nacken, und sobald sie weg war, erholte sich der Engel sofort. Mit einer blitzschnellen Bewegung packte er Karous Handgelenk und schleuderte sie von sich.
Sie landete auf den Füßen und wirbelte herum, um sich ihm zu stellen.
Vornübergebeugt, schwer atmend, stand er vor ihr, die Hand im Nacken, und starrte sie mit seinen Tigeraugen unverwandt an. Sein Blick hielt sie fest, und einen Moment konnte sie sich nicht rühren, nur zurückstarren. Sein schönes Gesicht war schmerzerfüllt, und er hatte die Stirn gerunzelt, als stünde er einem Rätsel gegenüber.
Als wäre
sie
, Karou, dieses Rätsel.
Dann bewegte er sich, und der Moment war vorbei. In einer beschwichtigenden Geste hob er die Hände. Seine Nähe brachte Karous Hamsas heftig zum Pulsieren. Ihr Herz, ihre Fingerspitzen, ihre Erinnerungen: ein schneidendes Schwert, Kishmish in Flammen, ausgelöschte Portale, Izîl, wie sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, mit einem Schrei auf den Lippen:
»Malak!«
Auch sie hob die Hände, aber nicht als Zeichen des Friedens. Eine umfasste ihr Messer, die andere richtete erneut ihr Hamsa auf den Engel.
Der Seraph zuckte zusammen und wich ein paar Schritte zurück.
»Warte«, sagte er und stemmte sich gegen die Magie. »Ich werde dir nichts tun.«
Karou wollte lachen, aber das Lachen blieb ihr im Hals stecken. Wer war hier in Gefahr, verletzt zu werden? Sie fühlte sich mächtig. Ihr Phantomleben hatte aufgehört, sie zu verhöhnen, war stattdessen unter ihre Haut gekrochen und hatte von ihr Besitz ergriffen. Das war sie: keine Gejagte, sondern mächtig.
Wieder stürzte sie sich auf ihn, und er wich zurück. Sie folgte ihm, und er trat beiseite. In all ihrem jahrelangen Training hatte Karou immer etwas zurückgehalten. Aber das war vorbei. Sie fühlte sich stark, sie fühlte sich
entfesselt
. Mit allem, was sie im Kampfsport je gelernt hatte, schlug und trat sie auf ihn ein – auf seine Brust, seine Beine, sogar seine erhobenen Hände –, und jeder Treffer führte ihr seine starke körperliche Präsenz vor Augen – und seine Verletzlichkeit. Engel oder nicht, er war aus Fleisch und Blut.
»Warum folgst du mir?«, knurrte sie in der Sprache der Chimären.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er
Karou lachte. Es war wirklich irgendwie lustig. Sie fühlte sich leicht wie Luft und klar wie Gefahr. In kühler Raserei fiel sie über ihn her, und
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