DavBen-StaderDie
das Haar, während sie mir verkündeten, was für ein Glückspilz ich sei, einen solchen Vater zu haben. Andere waren so kalt und unerreichbar wie die Erde umkreisende Monde, konnten es kaum erwarten, dass ich wieder in dem Zimmer verschwand, das ich mit meiner Schwester teilte, und die Erwachsenen allein ließ, damit sie ihre Diskussionen über das Politbüro oder Mandelstams neueste Provokation fortsetzen konnten. Einige lallten schon nach einem einzigen Glas Wodka, und andere wurden erst eloquent, nachdem sie die erste Flasche intus hatten.
Abendroths Augen glänzten ein wenig zu sehr. Von Zeit zu Zeit lächelte er ohne ersichtlichen Grund, amüsierte sich über irgendetwas Witziges, das er sich im Stillen erzählte. Er betrachtete uns und sagte kein Wort, bis er das Glas ausgetrunken hatte, rieb sich dann die Hände und zog die Schultern hoch.
»Zwetschgenwasser«, erklärte er uns. Er sprach korrektes Russisch, aber genau wie sein Offizierskamerad vor dem Schulhaus gab er sich keine Mühe, seinen Akzent zu verbergen. »Ein alter Mann, den ich kenne, stellt ihn eigenhändig her, der beste Schnaps der Welt, und ich nehme immer eine Kiste voll mit, egal wohin ich gehe. Einer von euch spricht Deutsch?«
»Ich«, sagte Kolja.
»Wo hast du es gelernt?«
»Meine Großmutter war aus Wien.« Ich hatte keine Ahnung, ob das wahr oder gelogen war, aber er sagte es im Brustton der Überzeugung, und Abendroth schien es zu akzeptieren.
»Warst du schon einmal in Wien?«, fragte er auf Deutsch.
»Nein«, erwiderte Kolja, ebenfalls auf Deutsch.
»Schade. Eine wunderschöne Stadt. Und bis jetzt hat sie noch keiner bombardiert, aber das wird nicht so bleiben. Ich nehme an, dass die Engländer damit anfangen werden, bevor das Jahr um ist. Wer hat dir gesagt, dass ich Schach spiele?«
»Einer Ihrer Kameraden, gestern im Schulhaus. Ein Obersturmführer, glaube ich. Er spricht fast so gut Russisch wie Sie.«
»Küfer? Der mit dem Bärtchen?«
»Genau der. Er war sehr ...« - Kolja zögerte, als wüsste er nicht, wie er sich ausdrücken sollte, ohne etwas Ungehöriges zu sagen - »... freundlich.«
Abendroth sah Kolja einige Sekunden lang scharf an, dann schnaubte er, amüsiert und angewidert. Er hielt sich mit dem Handrücken den Mund zu und rülpste, bevor er sich ein weiteres Glas Schnaps einschenkte.
»Das kann ich mir vorstellen. Ja, Küfer ist sehr freundlich. Und wie kam das Gespräch auf mich?«
»Ich habe ihm erzählt, dass mein Freund da einer der besten Schachspieler in Leningrad ist, und er hat...«
»Dein jüdischer Freund da?«
»Ha, den Witz hat er auch gemacht, aber Lew ist kein Jude. Er hat nur das Pech, die entsprechende Nase zu haben, aber nicht das dazugehörige Geld.«
»Mich wundert, dass Küfer sich nicht den Schwanz des Jungen angesehen hat, um seine Rassenzugehörigkeit fest zustellen.«
Ohne mich aus den Augen zu lassen, sagte Abendroth etwas auf Deutsch zu den Soldaten, die schnell einen neugierigen Blick auf mich warfen.
»Hast du verstanden, was ich gerade gesagt habe?«, fragte er Kolja.
»Ja.«
»Übersetze es deinen Freunden.«
»>Es ist meine Aufgabe zu wissen, wann ich einen Juden vor mir habe.<«
»Sehr gut. Und im Gegensatz zu unserem Freund Küfer weiß ich auch, wann ich ein Mädchen vor mir habe. Nimm die Mütze ab, Kleine.«
Geraume Zeit rührte sich Vika nicht. Ich traute mich nicht, sie anzuschauen, aber ich wusste, dass sie überlegte, ob sie das Messer ziehen sollte oder nicht. Es wäre eine sinnlose Geste gewesen, die beiden Wachen hätten sie niedergeschossen, bevor sie auch nur einen Schritt hätte machen können, aber sinnlose Gesten waren offenbar alles, was uns geblieben war. Ich spürte, wie Kolja neben mir erstarrte - falls Vika zum Messer griff, würde er sich auf den ihm am nächsten stehenden Gebirgsjäger stürzen, und dann wäre alles schnell vorbei.
Der bevorstehende Tod schreckte mich weniger, als man meinen sollte. Ich hatte schon zu lange zu viel Angst; ich war zu erschöpft, zu hungrig, um überhaupt etwas intensiv zu empfinden. Aber falls sich meine Angst verringert hatte, dann nicht, weil meine Courage größer geworden wäre. Mein Körper war so schwach, so kaputt, dass meine Beine schon zitterten, wenn ich aufrecht dastand. Ich hatte nicht die Kraft, mir um irgendetwas größere Sorgen zu machen, nicht einmal um das Schicksal von Lew Beniow.
Schließlich nahm Vika ihre Kaninchenfellmütze ab und hielt sie mit beiden Händen fest. Abendroth trank
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