DavBen-StaderDie
sehen, wie sie ohne den ganzen Dreck aussieht. Vielleicht auch nicht, vielleicht kein Bad, vielleicht will ich heute Abend mal ein Tier ficken. Schließlich soll man sich immer an die Landessitten halten, stimmt's? Und jetzt denk nach, Bürschchen, denk genau nach, bevor du den Mund aufmachst. Um deiner selbst willen, um deiner Mutter willen, falls das Luder noch lebt, denk nach.«
Ein anderer hätte beschlossen, es dabei bewenden zu lassen, und endgültig die Klappe gehalten. Kolja zögerte nicht eine Sekunde lang.
»Natürlich können Sie mich töten, wann immer es Ihnen beliebt. Das ist unbestritten. Aber glauben Sie, dass mein bester Freund da noch anständig Schach spielen kann, wenn mein Hirn auf dem Tisch verspritzt ist? Wollen Sie gegen den Besten von Leningrad spielen oder gegen einen verängstigten Jungen, dem die Pisse das Bein hinunterläuft? Wenn er unsere Freiheit nicht gewinnen kann, na gut, so ist das nun mal im Krieg. Aber geben Sie ihm wenigstens die Chance, das Abendessen zu gewinnen, von dem wir so träumen.«
Abendroth stierte Kolja an, während er mit den Fingerkuppen langsam auf die Tischplatte trommelte, das einzige Geräusch im Raum. Schließlich wandte er sich an den Soldaten mit den Leberflecken und gab eine knappe Anweisung. Nachdem der junge Deutsche salutiert und den Raum verlassen hatte, bedeutete mir der Sturmbannführer, mich neben ihn auf den Stuhl an der Ecke des Tisches zu setzen. Er nickte Kolja und Vika zu und wies auf die Stühle am anderen Ende des Tisches.
»Setzt euch«, befahl er ihnen. »Ihr wart doch den ganzen Tag auf den Beinen, stimmt's? Also setzt euch. Sollen wir eine Münze werfen?«, fragte er mich. Ohne auf meine Antwort zu warten, zog er eine Münze aus der Tasche und zeigte mir den das Hakenkreuz umklammernden Adler auf der einen Seite und den Nennwert »Fünfzig Reichspfennige« auf der anderen. Er schnippte die Münze mit dem Daumen in die Luft, fing sie auf, knallte sie auf den Rücken der anderen Hand und sah zu mir hoch. »Kopf oder Zahl?«
»Zahl.«
»Gefällt dir unser Vogel nicht?«, fragte er leise lächelnd. Er zog die Hand weg und zeigte mir den Nazi-Adler. »Ich bin Weiß. Und keine Sorge - du darfst deine Dame behalten.«
Er zog den Damenbauern zwei Felder vor und nickte, als ich den gleichen Zug machte.
»Irgendwann wähle ich mal eine andere Eröffnung.« Er rückte mit dem c-Bauern zwei vor, bot ihn als Opfer an. Das Damengambit. Mindestens die Hälfte der Partien, die ich gespielt hatte, begann mit diesen Zügen. Sonntagsspieler wie Großmeister fingen mit dieser Kombination an; es war noch zu früh, um sagen zu können, ob der Deutsche wusste, was er tat. Ich nahm das Gambit nicht an und rückte mit dem Königsbauern ein Feld vor.
Im Laufe der Jahre habe ich Tausende von Partien gegen Hunderte von Gegnern gespielt. Ich habe auf einer Decke im Sommergarten gespielt, bei Turnieren im Pionierpalast, mit meinem Vater im Hof des Kirow. Als ich für den Spartak-Klub spielte, hielt ich alle Partien schriftlich fest, aber ich warf die Aufzeichnungen weg, als ich die Schachwettbewerbe aufgab. Ich wollte nie wieder meine alten Partien studieren, nicht nachdem ich erkannt hatte, dass ich nur ein mittelmäßiger Spieler war. Aber wenn du mir Papier und Bleistift gibst, könnte ich dir noch heute die algebraische Notation dieser Partie gegen Abendroth aufschreiben.
Beim sechsten Zug rückte ich mit meiner Dame von der hintersten Reihe vor, was ihn offenbar überraschte. Er runzelte die Stirn, kratzte sich mit dem Daumennagel die Stoppeln auf der Oberlippe. Ich wählte diesen Zug, weil ich ihn für gut hielt, aber auch, weil es ein schlechter Zug hätte sein können - bis dahin hatte noch keiner von uns ein Gefühl für die Fähigkeiten des Gegners, und wenn Abendroth mich für einen schlechten Spieler hielt, konnte ich ihn dazu bringen, einen entscheidenden Fehler zu machen.
Er murmelte etwas auf Deutsch und zog den Springer des Königsflügels, eine verständliche Reaktion, aber nicht die, die ich befürchtet hatte. Wenn er meinen Bauern geschlagen hätte, dann hätte er die Initiative behalten und mich gezwungen, auf seinen Angriff zu reagieren.
Stattdessen spielte er defensiv, was ich mir zunutze machte, indem ich mit dem Läufer auf sein Gebiet vorstieß.
Abendroth lehnte sich zurück und studierte das Spiel. Nachdem er eine Minute nachgedacht hatte, lächelte er und sah zu mir hoch.
»Ich habe lange nicht mehr mit einem guten Gegner
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