Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

DavBen-StaderDie

Titel: DavBen-StaderDie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
Vom Netzwerk:
am Leben, und so verschwanden die Bücher der Stadt genauso wie die Tauben.
    »Hast du die Hühner mal gesehen?«, fragte Kolja.
    »Ich nicht, aber mein Bruder. Der alte Mann schläft nachts im Stall, mit einem Gewehr. Jeder im Haus will an die Hühner.«
    Kolja sah zu mir her, und ich schüttelte den Kopf. Wir alle hörten jeden Tag zehn verschiedene Belagerungsmärchen, Geschichten von geheimen Fleischlagern voll tiefgekühlter Rinderkeulen, von Vorratskammern voller Kaviardosen und Kalbswürsten. Immer war es der Bruder oder der Vetter von irgendwem, der die Schätze gesehen hatte. Die Leute glaubten diese Märchen, weil sie ihrer Überzeugung entsprachen, dass sich irgendjemand irgendwo den Bauch vollschlug, während der Rest der Stadt hungerte. Und sie hatten natürlich recht - die Tochter des Obersts aß vielleicht nicht jeden Abend Gänsebraten, aber sie aß jeden Abend.
    »Der alte Mann kann nicht immer im Hühnerstall sein«, erklärte ich dem Jungen. »Er muss seine Lebensmittelrationen abholen. Er muss Wasser holen und aufs Klo gehen. Da wären ihm die Hühner doch schon vor Monaten geklaut worden.«
    »Er pinkelt vom Dach runter. Wenn's aus dem anderen Ende rauskommt, keine Ahnung, vielleicht füttert er die Hühner damit.«
    Kolja nickte, beeindruckt von der raffinierten Methode, wie der alte Mann seine Hühner am Leben erhielt, während ich selbst überzeugt war, dass das Kerlchen sich das alles beim Reden ausdachte.
    »Wann hast du das letzte Mal scheißen können?«, fragte mich Kolja unvermittelt. »Keine Ahnung. Vielleicht vor einer Woche?«
    »Bei mir ist es neun Tage her. Ich habe mitgezählt. Neun Tage! Wenn es endlich so weit ist, gebe ich ein großes Fest und lade die schönsten Mädchen von der Uni ein.«
    »Du kannst ja die Tochter vom Oberst einladen.«
    »Das werde ich auch, auf jeden Fall. Mein Scheißfest wird viel toller als die Hochzeit, die sie da plant.«
    »Das neue Brot auf Marken tut weh, wenn's rauskommt«, sagte der krausköpfige Junge. »Mein Vater sagt, das ist die ganze Zellulose, wo sie da reintun.«
    »Wo finden wir den alten Mann mit den Hühnern?«
    »Die Adresse weiß ich nicht. Aber wenn ihr vom Narwa-Tor aus zum Statschek-Prospekt geht, kommt ihr an dem Haus vorbei. Außen hängt ein großes Plakat von Schdanow an der Wand.«
    »An jedem zweiten Gebäude in Piter hängt ein Plakat von Schdanow«, sagte ich, inzwischen etwas gereizt. »Wir laufen doch keine drei Kilometer, um ein paar Hühner zu finden, die gar nicht existieren.«
    »Der Junge lügt nicht«, sagte Kolja und klopfte dem Kerlchen auf die Schulter. »Und wenn er lügt, kommen wir wieder und brechen ihm die Finger. Er weiß, dass wir vom NKWD sind.«
    »Ihr seid nicht vom NKWD«, sagte der Junge.
    Kolja zog das Schreiben des Obersts aus der Manteltasche und schlug dem Jungen damit leicht auf die Wange.
    »Das ist ein Propusk von einem Oberst des NKWD, der uns ermächtigt, Eier zu besorgen. Was sagst du jetzt?«
    »Hast du auch einen von Stalin, der dich ermächtigt, dir den Hintern abzuwischen?« »Da muss er mich erst ermächtigen zu scheißen.«
    Ich blieb nicht lange genug, um mitzubekommen, wie das Gespräch weiterging. Wenn Kolja meinte, durch die halbe Stadt stiefeln zu müssen, um diese frei erfundenen Hühner zu finden, dann war das seine Sache, aber es wurde bald Nacht, und ich wollte nach Hause. Ich hatte seit über dreißig Stunden nicht geschlafen. Ich machte kehrt und trat den Heimweg an, heim zum Kirow, versuchte mich zu erinnern, wie viel Brot ich unter der losen Fliese in der Küche versteckt hatte. Vielleicht hatte Vera etwas für mich. Sie war mir etwas schuldig, so wie sie davongelaufen war, ohne sich ein einziges Mal umzublicken, obwohl ich sie gerettet hatte. Mir kam der Gedanke, dass Vera und die anderen bestimmt dachten, ich sei tot. Ich fragte mich, wie sie reagiert hatte, ob sie geweint hatte, ihr Gesicht an Grischas Brust gedrückt, während der sie tröstete, oder ihn vielleicht wegstieß, wütend, weil Grischa sich aus dem Staub gemacht, sie im Stich gelassen hatte, während ich zurückblieb und sie vor der sicheren Hinrichtung bewahrte. Und Grischa würde sagen: »Ich weiß, ich weiß, ich bin ein Feigling, verzeih mir«, und sie würde ihm verzeihen, weil sie Grischa alles verzieh, und er würde ihr die Tränen abwischen und ihr sagen, dass sie mich, der ich mein Leben für Vera geopfert hatte, nie vergessen würden. Aber sie würden mich vergessen - binnen einem Jahr würden

Weitere Kostenlose Bücher