Dave Duncan
beinahe wohl in Tall Cranes, trotz des unheimlichen Rufes der Bewohner. Vor noch nicht allzu langer Zeit wäre ihr ein abgelegener Ort wie dieser erbärmlich und mitleiderregend erschienen. Wie schnell sich die eigenen Maßstäbe ändern konnten! Vermutlich würde ihr dieses Ullacarn wie eine große Stadt vorkommen, wenn sie nach so vielen einsamen kleinen Wüstensiedlungen dort ankamen, die viel kleiner und mit noch mehr Armut geschlagen waren als diese hier. Sie sehnte sich nicht nach großen Städten. Nur zu gerne hätte sie einen Besuch von Hub gegen einen ruhigen Nachmittag in Krasnegar eingetauscht – im langweiligen, schmuddeligen alten Krasnegar!
Fröhlich erwiderte sie die Grüße ihr vertrauter Mitreisender, als sie an ihren Zelten vorbeikam, Frauen und Kinder, mit denen sie die Torturen der Zentralwüste geteilt hatte:
Durst, mörderische Hitze und die Schrecken eines Sandsturmes. Vielleicht hätte sie einen Krug mit Wasser mitbringen sollen – als Tarnung. Doch Kade stellte sich beim Tragen von Wasser auf dem Kopf viel geschickter an als sie. Geduld war noch nie Inos’ starke Seite gewesen.
Schließlich kam sie zum Zelt des Vierten Löwentöters. Er würde irgendwo beschäftigt sein und Azak dabei helfen, das Abladen der Kamele zu beaufsichtigen. Seine Frau, Jarthia, war ungefähr genauso alt wie Inos und sah zugegebenermaßen umwerfend aus – auf eine üppige, djinnische Art und Weise – mit ihrem Haar in tiefem Kastanienrot und Augen so rot, wie Inos sie noch nie gesehen hatte. Kurz nach Abfahrt der Karawane in Arakkaran hatte Jarthia einem großen und gesunden Sohn das Leben geschenkt. Jetzt, wo ihr Bauch wieder flach wurde und ihre Brüste immer noch mit Milch gefüllt waren, wirkte ihre Figur noch sinnlicher als üblich. Natürlich war im Augenblick nichts davon zu sehen, und kein Mann würde es je zu sehen bekommen außer dem Vierten selbst. Er war schon älter und seiner schönen Frau, die ihm einen Sohn geschenkt hatte, völlig verfallen, einer Frau, deren Vorfahren nur zwei Handvoll Töchter hervorgebracht hatten. All dies fand Platz in Inos’ hinterhältigen Gedanken.
Jarthia kniete auf dem Teppich vor ihrem Zelt und entzündete die Kohlenpfanne. Sie war einfach eine anonym verhüllte Frau und blickte die Besucherin verwundert an, denn es war die Zeit des Tages, wo die Frauen sich beeilten, das Essen für ihre hungrigen, heißen und aufbrausenden Männer zu bereiten.
»Mistress Hathark?« murmelte Jarthia unergründlich und voller Respekt. Das war Inos’ gegenwärtiger Name, den Azak ausgesucht hatte. Es war auf jeden Fall besser als der Name, den er Kade aufgezwungen hatte und der unglücklicherweise bestimmte Assoziationen freisetzte – manchmal verbarg sich hinter der wilden Miene des jungen Sultans ein verschrobener Sinn für Humor.
Mistress Hathark hatte sich ihre Worte nicht zurechtgelegt. Sie murmelte eine Art Begrüßung und beschloß dann, sich zu setzen. Steif ließ sie sich auf dem Teppich nieder.
Jarthias Überraschung verwandelte sich in Mißtrauen. Sie murmelte die übliche Willkommensformel von »Das Haus meines Mannes ist geehrt« bis zum Anbieten von Wasser.
Inos wies das Wasser zurück. »Ich habe mich gefragt«, begann sie und bemühte sich, ihren Hub-Akzent zu verstärken, den sie in Kinvale unter Mühen kultiviert hatte, »ob Ihr vielleicht vorhabt, heute abend das Badehaus aufzusuchen.«
Jarthia lehnte sich zurück und betrachtete ihre Besucherin, ohne mit der Wimper zu zucken, aus ihren roten Augen. »Der Löwentöter besteht darauf. Er ist ein sehr anspruchsvoller Ehemann.«
Das bezweifelte Inos. »Oh, das ist gut… aber das habe ich eigentlich nicht gemeint. Eigentlich habe ich mehr an Thali gedacht… ob Ihr daran dachtet, heute abend Thali zu spielen?«
Thali war ein beliebtes Spiel unter Frauen. Inos hatte es einige Male in Kinvale gespielt.
Jarthia war die weibliche Meisterin der Karawane. Ihr roter Blick huschte eilig über die Gebäude auf der anderen Seite des Teiches und dann zurück zu Inos. »Möglich.« Die Frauen von Tall Cranes hatten sicher mehr Kostbarkeiten zu verlieren als die Frauen rechtschaffenerer Siedlungen.
»Oh, gut. Meine Tante und ich würden vielleicht gerne zur Abwechslung mitmachen.«
»Mistress Phattas und Ihr seid immer willkommen.« Jarthias Stimme wurde vor lauter Argwohn ganz leise.
»Ja. Nun… was ich eigentlich dachte…«
Inos hätte sich wirklich vorher überlegen sollen, wie sie vorgehen wollte.
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