Dave Duncan
hätte dafür gerne sein Leben gegeben. Das Problem war, daß er vermutlich nicht genug Zeit haben würde, sich über die Reling in einen anständigen Tod zu stürzen, und wenn die anderen Jotnar ihn erwischten, welche unaussprechlichen Folterqualen würden sie ihm dann auferlegen?
Kalkor beobachtete ihn mit schläfriger Geringschätzung. Er wirkte völlig entspannt, wie er so auf seinem Thron lümmelte und sich von seinem neuen Gefangenen rasieren ließ, aber für Raps Sehergabe war er nicht entspannt. Seine Augen waren halb geschlossen, und dennoch aufmerksam, und während seine Hände lose hinunterhingen, waren die Muskeln seiner Schultern doch hart wie Stahl. Than Kalkor war nicht ganz der unbekümmerte, selbstmörderische Held, den er so gerne spielte.
Rap merkte, daß er mit dem Atmen aufgehört hatte, und er hielt inne, um Luft zu holen. Er wischte sich über die Stirn, obwohl ihm der Schweiß nicht in die Augen rann, die immer noch geschwollen und verschleiert waren. Er hatte mit geschlossenen Augen gearbeitet.
Kalkor beobachtete ihn weiter.
»Streichriemen?« krächzte Rap.
»In der Tasche.«
Rap fischte den Riemen heraus und begann, das Messer zu schärfen. Als er wieder zum Rasieren bereit war, warf Kalkor den Kopf zurück und hielt ihm seine Kehle hin.
»Erzählt mir von Darad und diesem Fluch, der auf ihm liegt.«
Rap zog mit den Fingerspitzen die Haut straff und schnitt die Barthaare mit einem kühnen Strich ab. Ein schneller Schnitt wäre ganz einfach, und die Welt danach um so vieles besser! Er konnte sich nicht erinnern, was er Kalkor am Tag zuvor über Darad erzählt hatte. »Sie sind fünf.« Er mußte auf die Wellenberge achten – die Blood Wave hatte die unangenehme Angewohnheit, mit dem Achterschiff zu wackeln, wenn sie die Wellen erklomm, und der Wind ihren Rumpf erfaßte; wenn er sein Gleichgewicht verlor, würde er ganz gewiß auch einen Finger verlieren. »Es kann immer nur einer nach dem anderen existieren. Sie waren eine Bande wilder Jungs. Vor ungefähr hundert Jahren…«
So leicht zu töten. War er nicht Manns genug? Er fühlte sich wegen Yggingi nicht wirklich schuldig, und dieser Jotunn war tausendmal schlimmer, als der Imp gewesen war. Versuch’s einfach und bring’s hinter dich! Er schob Kalkors Kinn in einen besseren Winkel. Er stützte seinen Kopf gegen einen Balken und riß sich Splitter in die Kopfhaut. Das Ganze wäre einfacher gewesen, wenn er hätte aufrecht stehen können. Ohne die Schärfe seiner Sehergabe wäre es unmöglich gewesen. »Jeder von den fünf hat eine Fähigkeit…« Jetzt schien die Rasierklinge schwerer zu gleiten, und das lag nicht an mangelnder Schärfe. Auch Kalkor begann zu schwitzen. Er tat immer noch so, als sitze er entspannt und locker auf seinem Stuhl, doch erstarrte er immer mehr. Auf seiner Stirn und der Brust zeigte sich ein feiner feuchter Film. Ging diese Tortur länger, als er erwartet hatte? Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, daß Rap ihn gleich beim ersten oder zweiten Strich schneiden würde… so weit, so gut, die Arbeit war zur Hälfte getan. Vermutlich hatte Kalkor vorgehabt, das Spiel zu beenden, wenn er zehn Schnitte davongetragen hatte. Ein Seher ohne Hände wäre viel einfacher gefangenzuhalten. Aber wenn er Rap verstümmeln wollte, dann würde er es ohnehin tun, ganz gleich, wie oft Rap ihn schnitt.
Es war leichter, beim Schärfen als beim Schneiden zu reden. »Darad muß die anderen nicht sehr oft um Hilfe bitten, also ist er älter geworden. Er bleibt immer sehr lange. Thinal dagegen ist immer noch ein Kind.« Rap ergriff Kalkors Ohr und zog ein wenig fester daran als nötig.
Kein Spiel – es war eine Falle. Der Jotunn erwartete keine Schnitte, er erwartete einen Angriff, erwartete, daß Rap Anstalten machte, ihm die Kehle durchzuschneiden. Erneutes Schärfen. »Jalon ist der Spielmann, der Künstler…« Er sprach ohne nachzudenken, aber es machte ihm nichts aus, das große Geheimnis der fünf zu verraten. Er schuldete keinem von ihnen irgend etwas. Das einzige, was er nicht erwähnte, war das Wort der Macht. Kalkor hatte bereits ein eigenes Wort, und er könnte in Versuchung geraten, sich zum Jünger zu machen. Er könnte außerdem auch Raps Wort aus ihm herauspressen, und drei Worte würden aus ihm einen Magier machen. Kalkor als Magier – das war ein unerträglicher Gedanke.
Sein Talent war das Kämpfen, hatte Andor gesagt. Konnte ein einfaches okkultes Genie einen Angriff mit einer Rasierklinge abwehren,
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