Davina
»Was meinen Sie damit?«
»Wissen Sie noch, wie lange es gedauert hat, echte Informationen aus Perekow herauszuholen? Ganz abgesehen von der anfänglichen Eingewöhnung – und die dauerte Monate, noch länger als bei Sasonow. Und als er dann schließlich hierher kam, war es in den ersten Wochen so, als müsse man ihm alles bröckchenweise aus der Nase ziehen. Bis er sich mal dazu entschlossen hatte, Dinge zu sagen, über die er nach seiner Ausbildung niemals mehr sprechen durfte. Das ist ein schmerzhafter Vorgang – die psychologischen Knoten aufzulösen, die sich im Laufe des Lebens festgezogen haben. Landesverrat ist keine leichte Sache, und was immer diese Kerle einem erzählen mögen – für sie bleibt Verrat immer Verrat, und der Westen ist noch immer der Feind. Sie müssen sich innerlich völlig umkrempeln, bevor sie wirklich mit uns zusammenarbeiten.«
»Und Sie glauben, daß Sasonow das noch nicht getan hat?« Grants Tonfall klang scharf. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß er uns ein vorbereitetes Drehbuch vorliest? Verdammt!« Er richtete sich kerzengerade auf und stellte seinen Drink beiseite. Bisher hatte ihn kaum einer fluchen hören.
»Ich will damit gar nichts sagen«, meinte Kidson. »Das sind reine Spekulationen – ich will nur meine Gedanken ordnen, das ist alles. Für mich ist er ein Rätsel. Ich finde sein Verhalten unheimlich; das Wort klingt vielleicht albern, aber irgendwie paßt es auf ihn. Er tut etwas, was ihm äußerst zuwider ist, und er scheint eine Art perverses Vergnügen darin zu finden. Ich glaube, daß er unter irgendeinem sehr starken Druck steht.«
»Was für eine Art von Druck?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Kidson. »Was immer es auch sein mag – es zerreißt ihn innerlich.«
»Alles, was er uns bisher erzählt hat, ist überprüft worden, und bis jetzt hat sich alles bestätigt«, murmelte Grant. »Ich spreche morgen Vormittag mit dem Chef und benötige dazu von Ihnen einen schriftlichen Bericht über das, was Sie mir eben gesagt haben.«
»Gewiß«, sagte Kidson. »Ich schreibe ihn noch heute abend. Seien Sie nicht beunruhigt, Humphrey, Sie kennen mich, ich sehe immer Gespenster. Dieser Bursche ist für uns so wichtig, daß wir es uns nicht leisten können, selbstgefällig zu werden. Persönlich halte ich ihn für in Ordnung, und das beunruhigt mich ebenso wie die andere Möglichkeit. Wir müssen ihn zur Ruhe kommen lassen. Wir müssen ihn klar auf unsere Seite bringen und Schritt für Schritt eng mit ihm zusammenarbeiten, sobald wir alle Informationen ausgewertet haben.«
»Aus diesem Grund haben wir ein Team nach Russland geschickt«, meinte Grant. »Das weiß er. Er weiß, daß wir den Versuch unternehmen, seine Tochter herauszuholen und sie zu ihm zu bringen. Das muß der Anker für ihn sein, den er braucht.«
»Ja, allerdings. Merkwürdigerweise bezog sich die einzige andere Frage, die er mir seit unserer Ankunft in diesem Haus gestellt hat, auf Davina Graham. Jedenfalls werde ich meine Ansicht zu Papier bringen, und Sie können dann mit dem Chef darüber reden. Trinken Sie aus, Humphrey. Mir wäre jetzt ein Abendessen recht, nach diesen langen Sitzungen bekomme ich immer Hunger.«
»Und Sie haben es fertig gebracht«, sagte Grant mit säuerlicher Miene, »daß mir der Appetit vergangen ist.«
James White hatte anstelle der großen Europakarte, die sonst an der Wand seines Arbeitszimmers hing, eine Karte vom Nahen Osten aufgehängt. Er und Grant standen davor. Seit fast drei Tagen analysierten sie Punkt für Punkt die von Sasonow gelieferten Informationen und verglichen sie, soweit es möglich war, mit anderen Informationen, die aus eigenen Quellen stammten. Einmal hatte White gesagt: »Großer Gott – der kann doch nicht mehr für die andere Seite arbeiten«, und hatte dann die Lektüre fortgesetzt.
»Allmählich setzt sich alles zu einem einheitlichen Bild zusammen«, sagte er zu Grant. »Afghanistan ist eine einzige, riesige Militärbasis, von der aus Interkontinentalraketen auf China gerichtet sind. Luftverbände mit Atombomben können bequem jede größere Stadt in Indien und Pakistan erreichen. Aufgrund unserer eigenen Informationen ahnten wir bereits, daß die Lage miserabel aussieht – nicht aber, daß sie so bedenklich ist. Im Iran ist immer noch alles offen. Präsident Rezai hält den Staat verbissen zusammen. Kommunistisch orientierte Fedayin und Moslem-Revolutionäre, Kurden, Belutschen, Bachtiaren – alle wollen sich
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