Davina
mein Freund.«
Sie blickte ihm in die Augen, und er hielt diesen Blick fest, als wäre sie ein Kaninchen, das vor dem Blick einer Schlange erstarrt. Sie sah die Unwahrheit mit ihren eigenen Augen und ergab sich in ihr Schicksal. Ihr Vater war nie sein Freund gewesen. Die einzige Lüge ihrer Mutter hatte einem Leichnam gegolten, von dem Wolkow wußte, daß er nicht der ihres Vaters war. Wenn er sie jetzt auch nur beim leisesten Anflug von Unaufrichtigkeit erwischte, war ihre Mutter verloren. Und ihre Mutter spielte eine wesentliche Rolle in diesem Handel, zu dem er sich noch nicht geäußert hatte. Aber sie wußte genau, daß sie dabei eine Hauptrolle übernehmen mußte. Sie senkte den Kopf und suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Wolkow beobachtete sie mit Genugtuung. Der Vergleich mit dem Kaninchen, der ihm eingefallen war, paßte gut. Rosa und weiß, mit hübschen blauen Augen und mit Haaren, die wie reifer Weizen wirkten. Ein weiches, gefügiges, kleines Kaninchen.
Er beugte sich vor und legte die Hand auf ihren bloßen Arm. »Weinen Sie nicht«, sagte er leise. »Ich bin kein hartherziger Mensch. Das werden Sie schon noch merken. Ich bestelle einen polnischen Cognac, dann fühlen Sie sich gleich besser.«
Ein Kellner erschien und verschwand sogleich. Die Gläser wurden sofort gebracht. Im ›Bären‹ lief der Service wie am Schnürchen. Schlecht bedient wurden nur die Touristen und die einfachen Russen, die versuchten, einmal in einem Moskauer Restaurant zu essen.
Sie trank den Brandy in kleinen Schlucken. Wolkow zündete sich eine Zigarette an.
»Sie wollen ihr doch helfen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte sie langsam, »dafür würde ich alles tun.«
»Sie hat sehr gut von Ihnen gesprochen«, meinte er nachdenklich. »Sie macht sich große Sorgen darüber, wie Sie reagieren würden, wenn Sie erführen, was sie getan hat. Sie sagte, Sie seien ein treues Parteimitglied. Das sind Sie doch, Irina, nicht wahr?«
»Ja«, sagte sie wieder.
»Gut. Ich hätte Sie nicht zu fragen brauchen. So etwas sieht man den Menschen an.« Er berührte wieder ihren Arm, und diesmal streichelte er ihn. »Wenn wir unseren Cognac ausgetrunken haben, machen wir eine kleine Autofahrt. Ich will Ihnen meine Datscha zeigen. Sie liegt nicht weit von hier. Es macht Ihnen doch nichts aus, etwas später nach Hause zu kommen?«
»Nein, keineswegs, Genosse Wolkow.« Sie lächelte ihn strahlend an.
»Nicht Genosse«, sagte er. »Antoni – wenn wir allein sind.«
Im Wagen rührte er sie nicht an. Die Fahrt dauerte etwas über zwanzig Minuten. Ein Sicherheitsbeamter stand vor der Datscha. Der Mond war aufgegangen, und sie konnte sehen, daß das Haus ein einstöckiger, weißgetünchter Bungalow war, der inmitten von Büschen lag und von der Außenwelt durch einen Kieferngürtel abgeschirmt war. Er war viel größer als ihre alte Datscha, und der Garten war viel ausgedehnter. Man hatte sie ihnen weggenommen, als ihr Vater als vermisst gemeldet wurde. Er führte sie ins Haus. Der Raum war in ein angenehmes Licht getaucht und mit den neuesten schwedischen Sofas und Sesseln möbliert. Das Bild über dem Kamin hätte vor der sowjetischen Kunstakademie keine Gnade gefunden. Es trug die Signatur von Chagall. Wolkow hatte eine Vorliebe für dekadente Kunst. Er trat auf sie zu und nahm sie in die Arme.
»Du bist ein sehr hübsches Mädchen«, murmelte er. »Ich mag dich, Irina. Magst du mich auch?«
Es enttäuschte ihn fast, daß keine Angst in ihrem Gesicht lag, als sie antwortete: »Ja, ich mag dich auch, Antoni.«
Er begann sie zu küssen, und sie hakte, ohne darum gebeten worden zu sein, ihr Kleid am Rücken auf und zog es aus. Anscheinend doch nicht solch ein Kaninchen, dachte er im stillen, als er sie auf das Sofa legte. Zuerst zwar etwas furchtsam, dann aber ganz konsequent, wenn sie sich zu etwas entschlossen hatte. Mit ihr würde es vielleicht länger gehen als mit den meisten anderen. Er war überrascht, als er merkte, daß sie noch Jungfrau war.
Am Donnerstag um 16.15 Uhr während der Bürostunden in der Wirtschaftsabteilung der Britischen Botschaft in Moskau brach Michael Barker an seinem Schreibtisch zusammen. Er war ein jüngerer Sekretär, der sich seit etwas über einem Jahr auf diesem Posten befand. Er klagte über Schmerzen in der Brust und im linken Arm. Der Botschaftsarzt wurde gerufen, und nach einigem aufgeregten Hin und Her und Telefongesprächen mit dem Botschafter wurde bekannt gegeben, Michael Barker hätte
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