Davina
erhielt das Recht zurück, Einkäufe in der Granowskystraße 2 zu machen und Kleider im dritten Stock von ›Gum‹ einzukaufen, was nur den hohen Parteifunktionären vorbehalten war. Sie aß mit Wolkow während der Woche zu Abend, und nach der letzten Vorlesung vor dem Wochenende wurde sie von seinem Dienstwagen abgeholt. Sie sah Poliakow nicht, bis er in der nächsten Woche die Soziologievorlesung hielt. Auf dem Hügel sitzend, umspannte sie die Knie mit den Armen und schloß die Augen. Sie wiegte sich leicht hin und her, wie ein Kind oder eine sehr alte Frau. Es war Sonntag, und Wolkow hatte für den nächsten Abend den Besuch bei ihrer Mutter festgesetzt. Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange; sie wischte sie ab und stand auf. Es war Zeit, in die Datscha zurückzugehen. Er würde sie wieder ins Bären-Restaurant führen, und danach würden sie nach Schukowa zurückkehren und miteinander ins Bett gehen.
»Mutter«, bat Irina inständig, »weine nicht – bitte weine nicht.«
Sie hielt Fedja Sasonowa in den Armen und konnte spüren, wie sehr ihre Mutter abgemagert war. Man hatte Fedja in ein Besuchszimmer heraufgebracht und die beiden dann zu ihrer Überraschung allein gelassen. Fedja klammerte sich an ihre Tochter und schluchzte. Bei der Umarmung flüsterte sie: »Sei vorsichtig, wir werden abgehört. Hast du Nachrichten von deinem Vater – sag es mir rasch.«
Irina küßte sie. »Reg dich nicht auf«, sagte sie laut. »Versuche dich zu beherrschen.«
Und dann im Flüsterton. »Ich warte noch, ich werde bald etwas erfahren.«
Fedja trug einen schmucklosen, sauberen Overall; man hatte ihr Kamm und Bürste sowie einen kleinen Spiegel zugestanden. Ihre Essensrationen hatten sich plötzlich gebessert. Sie war nicht mehr verhört worden, aber man hatte sie angewiesen, einen Brief abzuschreiben, der sie entsetzte. Und sie mußte ihn immer und immer wieder abschreiben, mit kleinen Variationen. Das geschah mitten in der Nacht und ohne weitere Erklärungen. Sie schaute ihre Tochter aus tränennassen Augen an und rang sich ein Lächeln ab.
»Gut siehst du aus«, sagte sie, »studierst du fleißig? Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen, für mich ist hier gut gesorgt. Setzen wir uns.«
Zwei Stühle standen in dem Raum, und Irina zog sie dicht voreinander. Sie setzte sich ihrer Mutter gegenüber und ergriff deren Hände.
»Ich bin sehr fleißig«, sagte sie. »Ach, Mutter, ich will dir keine Vorwürfe machen, aber warum hast du über Vater die Unwahrheit gesagt? Wusstest du nicht, was du tatest? Du wusstest doch, daß er nicht ganz gesund war. Warum hast du seine Vorgesetzten nicht darauf hingewiesen?«
Zur Warnung drückte sie Fedjas Hände fest in den ihren. Die Angst hatte sie in ständige Alarmbereitschaft versetzt. Sie ließ den Kopf hängen und sagte leise: »Ich weiß. Ich weiß, ich habe mich versündigt. Versuche, mir zu verzeihen, Irina. Ich habe Strafe dafür verdient. Ich hoffe nur, daß die Behörden Gnade vor Recht ergehen lassen. Aber du mußt mir verzeihen – du mußt. Jetzt, wo dein Vater tot ist …« Sie ließ ihren Tränen freien Lauf.
Ich darf nicht weinen, sagte Irina zu sich. Ich darf mich nicht verraten. Sie weiß, was ich tue. Sie versteht, das ich alles anders meine …
Laut sagte sie: »Er wäre noch am Leben, wenn du dich anders verhalten hättest. Aber was geschehen ist, ist nicht mehr rückgängig zu machen. Hör zu, Mutter, Genosse Wolkow hat mir diesen Besuch bei dir ermöglicht. Er sagt, du wirst eine Gelegenheit erhalten, dich zu rehabilitieren. Du wirst viel arbeiten und den Gesetzen gehorchen müssen – dann wirst du nicht allzu lange fort sein. Willst du mir versprechen, dich an die Bestimmungen zu halten?«
Fedja gab ihrer Tochter ein Zeichen aufzustehen. Zehn Minuten waren ihr zugebilligt worden, und die Zeit war fast verstrichen. Sie umarmte ihre Tochter wieder und flüsterte ihr ins Ohr: »Wenn du Nachricht von mir bekommst – unterschrieben mit ›dein Mütterchen‹, glaube es nicht. Es wird eine Lüge sein. Ich komme nie wieder nach Hause, mein Liebling. Aber das macht nichts. Geh in den Westen. Geh zu deinem Vater … Sag ihm, daß ich ihn liebe.«
Die Tür ging auf, und der Wachposten trat ins Zimmer. Er legte Fedja die Hand auf den Arm. »Die Zeit ist um«, sagte er. Er führte sie ab, und sie warf über die Schulter noch einen lächelnden Blick auf Irina zurück.
»Auf Wiedersehen«, sagte sie mit klarer Stimme, »… Töchterchen.«
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