Davina
gekostet hatte.
An Einzelheiten dessen, was dann geschah, konnte sie sich später nicht mehr genau erinnern. Sie wußte nur noch, daß der sowjetische Kommandant sie zur Tür brachte und auf russisch etwas hinausschrie. Sie wurde ins Wachlokal geschleppt, wo ein Dutzend grinsender Männer sie nackt auszogen und vergewaltigten; dabei wurde sie höhnisch mit Genossin tituliert. Spät in der Nacht wurde sie draußen auf der Straße, vor der Kommandantur, halb bewusstlos und nackt, aus inneren Verletzungen blutend, aufgefunden. Zwei alte Männer trugen sie in einen Keller, wo sich eine Gruppe entsetzter Menschen um sie kümmerte. Sie blieb eine Zeitlang im Krankenhaus und wurde dann entlassen. Wo vorher Chaos geherrscht hatte, waren Ruhe und Ordnung eingekehrt. Die Aufräumungsarbeiten auf den Straßen waren im Gange, die Versorgung war neu organisiert. Die Bevölkerung duckte sich unter einer Gewaltherrschaft, die der Nazidiktatur in nichts nachstand. Das war Ostdeutschland unter seinen kommunistischen Befreiern; dann wurde unter Ulbricht die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Frieda erhielt einen Arbeitsplatz in einer der wiederaufgebauten Fabriken; sie arbeitete in der Küche. Sie erwähnte nie ihre Parteimitgliedschaft und besaß die Personalpapiere einer anderen Frau, die während der ersten drei Monate sowjetischer Besetzung gestorben war. Sie hatte einen neuen Namen, eine neue Identität. Seelisch und körperlich erholte sie sich nur langsam; aber ihr Wille, den Kampf nach so vielen Jahren der Naziherrschaft fortzusetzen, war ungebrochen. Ende 1973 wurde sie britische Agentin und sorgte für die Tarnung eingeschleuster Geheimdienstler und Flüchtlinge.
Dieter und Helga Jäger waren für sie nur zwei Decknamen. Sie wußte von deren Auftrag in der Stadt ebenso wenig, wie diese ihre wahre Identität kannten. Die vielen Leiden hatten ihre schnelle Auffassungsgabe nicht getrübt; auch ihr Sinn für Humor hatte sie nicht verlassen. Sie konnte sehr geschwätzig sein, dann aber im nächsten Augenblick über sich selber lachen.
»Ich nenne sie meine Doppelgängerin«, erklärte sie. »Die übertrieben geschäftige Frieda. Der dreckige Spion dort unten braucht erst gar nicht hinter mir herzuschnüffeln. Ich mache ihn noch wahnsinnig, weil ich ihm alles über meinen Arbeitstag in der Fabrik erzähle, und was ich mir fürs Abendessen eingekauft habe und daß mich meine Nichte besuchen wird – er verkriecht sich schon fast, wenn er mich kommen sieht! Größere Sorgen mache ich mir wegen des Ehepaars, das am anderen Ende des Korridors wohnt. Er ist Kraftfahrer beim Landwirtschaftsministerium und sie arbeitet in der Charité. Aber die beiden sind gut angezogen und haben einen Farbfernseher. Mit anständiger Arbeit kann man sich solchen Luxus nicht leisten. Ich glaube, er arbeitet für den SSD. Deshalb möchte ich Sie beide hier wieder rausbringen, bevor sie zurückkommen. Ist alles klar?« Sie hatte sich an Peter Harrington gewandt. Seit sie den Übergang nach Ostberlin geschafft hatten, war Davina aufgefallen, wie sehr er sich verändert hatte. Der typische Engländer mit seinem flotten Benehmen und dem hintergründigen Humor war verschwunden, als ob er neben ihr in ein tiefes Loch gestürzt und von der Bildfläche verschwunden wäre. Peter Harrington war zum Dieter Jäger geworden. Er kleidete sich nicht nur wie ein Ostdeutscher, er bewegte sich auch so. Er blickte ständig sehr ernst und sprach kurz und abgehackt. Die Verwandlung war faszinierend; sie beobachtete ihn, während er mit Frieda die Ausweise mit ihren neuen Identitäten durchsah. Er war wirklich ein Profi; aufmerksam, stets wachsam und auf der Hut. Er übergab ihr die neue Hälfte der Ausweise.
»Gib Frieda deinen westdeutschen Paß mit dem Visum«, sagte er. »Sobald wir dieses Haus verlassen haben, bist du Gertrude Fleischer, und ich bin dein Ehemann Heinz.«
Davina nahm den ostdeutschen Paß entgegen und öffnete ihn. Ihr eigenes Gesicht starrte sie an. Es war für sie fast ein Schock, bis ihr wieder einfiel, daß man in dem Haus am Langham Place mehrere Passbilder von ihr gemacht hatte …
Gertrude Fleischer, Alter dreiunddreißig, verheiratet, Größe 167 cm, Haarfarbe braun, Augen grau, besondere Merkmale keine; wohnhaft 331 Hoffburg, Karl-Marx-Platz, Ostberlin 6. Beruf Sekretärin. Sie klappte das schmale, kleine Büchlein wieder zu; da war noch ein an sie adressierter Umschlag, frankiert mit einer Dienstmarke. Sie nahm die Einlage heraus.
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