Davina
Konferenztisch saßen. In der Regel wirkte er mürrisch, er hatte aber einen Sinn für Humor, der alle anderen meistens überraschte. Hier im Kreise von Kollegen ging eine erhebliche Kraft von ihm aus. Er sprach fließend und beantwortete Fragen mit unbestrittener Autorität. Die Zeichnungen auf Kidsons Notizblock wurden dunkler, weil er einige von ihnen besonders deutlich heraushob. Die Besprechung wurde unterbrochen, als Tee und trockene Kriegsoblaten serviert wurden, wie Grant sie nannte. Kidson und White gingen getrennt voneinander hinaus und trafen sich auf der Toilette. »Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte der Brigadier. »Er hat alles parat – jeden Namen, jedes Datum. Ganz außergewöhnlich.«
»Und der Schweiß rinnt ihm vom Gesicht«, meinte Kidson langsam. »Haben Sie das bemerkt? Er zerreißt sich innerlich, und ich weiß nicht, warum.« Er ging zum Waschbecken und ließ sich das Wasser über die Hände rinnen.
»Das werden wir bald wissen«, meinte der Brigadier. »Er hat mich darum gebeten, sich an der Jagd nach dem Doppelagenten beteiligen zu dürfen. Es dürfte ganz interessant werden, ob er ihn aufspürt. Er will die Freilassung seiner Frau erreichen, sagt er. Und er redet ständig von Miss Graham. Vielleicht liegt hier das Hauptproblem … Stellen Sie sich das vor, er will den Verräter für uns ausfindig machen.«
»Und wenn es ihm nicht gelingt?« fragte Kidson.
Der Brigadier drehte den Türknopf.
»Dann könnten wir die armen Teufel verlieren, die wir in die Sowjetunion geschickt haben«, sagte er.
Das Dorf Schukowa liegt an einem Steilufer oberhalb der Moskwa. Irina Sasonowa hatte Wolkow gefragt, ob sie an diesem Nachmittag Spazierengehen könne, solange er noch im Büro zu tun hatte. Er hatte ihr versichert, sie könne gehen, wohin sie wolle. Er empfahl ihr eine bestimmte Stelle außerhalb des Dorfes, wo sie eine schöne Aussicht über die umliegende Gegend habe. Es war sehr warm, aber vom Fluss stieg ein kühler Luftzug auf, der ihr wohltat. Es war nicht der Weg, den sie und ihre Eltern zu gehen pflegten, wenn sie an den Wochenenden im Sommer ihren Hund ausführten. Sasonow hatte das Ufergelände des langsam dahinfließenden Flusses sehr geliebt. Irina brachte es nicht fertig, die alten Pfade wieder zu begehen. Sie blieb auf dem höchsten Punkt stehen; das Dorf lag zu ihrer Linken, und dahinter erstreckten sich die modernen Ziegelhäuser und die seit alters her aus Holz gebauten Villen, die innerhalb ihrer hübschen Gärten und hinter den Baumkulissen so friedlich aussahen. Moskau war nur dreißig Kilometer entfernt, aber man hatte den Eindruck, mitten auf dem flachen Lande zu sein. Sie setzte sich, zupfte Grashalme aus und zerrieb sie zwischen den Fingern. Vor ihr erstreckte sich die weite Ebene scheinbar bis in die Unendlichkeit. Die warme Brise fuhr ihr durch die Haare. Unterhalb glitzerte der Sandstrand in der Sonne – überall waren Menschen zu erkennen. Baden und Fischen war hier für gewöhnliche Sowjetbürger, die in Scharen über die Uspenskaja-Brücke zu den öffentlichen Stränden zogen, verboten, weil der Fluss die Hauptstadt mit Wasser versorgte. Aber an den Stränden, wo die privilegierten Besitzer von Partei-Datschas picknickten und sonnenbadeten, waren Fischen und Schwimmen mit Sondergenehmigung gestattet. In den Lärchen- und Birkenwäldern, die das Dorf Schukowa und seine Datschas umgaben, waren während des letzten Krieges Schützengräben zur Verteidigung Moskaus gegen die deutschen Truppen ausgehoben worden. Man hatte sie nicht zu benutzen brauchen, weil die Eindringlinge, so wie die Franzosen im Jahr 1812, zurückgeschlagen worden waren und anschließend in Eis und Schnee umkamen.
Es war das dritte Wochenende, das sie mit Antoni Wolkow verbrachte, seit sie seine Geliebte geworden war. Als Belohnung hatte er ihr einen Besuch bei ihrer Mutter zugesagt.
Sie hatte seit jener ersten Nacht nicht mehr geweint, und auch dann nur, wenn er fest eingeschlafen war und sie das tränennasse Gesicht in den Kissen vergraben konnte. Sie fuhr in seinem Dienstwagen nach Moskau zurück. Sie besuchte wie gewöhnlich die Vorlesungen an der Universität, und wenn sie dann in ihre Wohnung zurückkehrte, wartete die alte Deschurnaja schon im Lift auf sie und fragte verlegen, ob die Genossin Sasonowa noch irgendwelche Wünsche habe. Sie habe die Wohnung schon aufgeräumt und saubergemacht. Irina ging, ohne zu antworten, an ihr vorbei. Wolkows Protektion wirkte sich bereits aus. Sie
Weitere Kostenlose Bücher