Davina
reden.«
»Das habe ich mir auch schon gesagt«, meinte Poliakow. »Wolkow war der Vorgesetzte ihres Vaters. Vielleicht hat sie sich zu einem Handel bereit erklärt, um ihrer Mutter zu helfen.«
»Ich bin gespannt, ob sie am Donnerstag etwas sagt«, bemerkte Jeremy. »Tut sie es nicht, müssen wir etwas unternehmen. Sonst wird man Sie und alle Ihre Leute verhaften. Das können wir uns nicht leisten.« Er fuhr mit einem Finger über die Bücherreihe und zog einen anderen Band heraus.
»Stecken Sie einen Busfahrschein in diesen Gedichtband. Dann weiß ich, daß Sie mit ihr gesprochen haben. Ich treffe Sie hier wieder am Freitag um drei Uhr.«
Poliakow nickte. »Wir gehen jetzt besser. Sie zuerst.«
»Viel Glück«, sagte Jeremy. Er stellte das Buch wieder zurück und ging.
10
»Ach, Ihr Lieben, das freut mich aber!«
Die grauhaarige Frau umarmte Davina und küßte dann Peter Harrington, während sie mit lauter Stimme ihre Begeisterung zum Ausdruck brachte. Sie wischte sich die Augen und sagte: »Verzeiht – es ist so lange her, seit ich Helga zum letzten Mal gesehen habe. Sie sieht ganz wie meine Schwester aus …«
Sie schritten Arm in Arm, die Tante in der Mitte, unter den Augen der verdrossenen Grenzpolizei des Ostsektors davon. Sie nahmen einen Bus zu einem nach dem Krieg aufgebauten Wohnviertel. Die grauen Gebäude mit ihren tristen und einförmigen Fassaden bestanden aus Etagenwohnungen. Jeder Block hatte einen Hausmeister, der im Dienst der Sicherheitspolizei, des unbarmherzigen SSD, stand, der die Stadtbevölkerung drangsalierte. Die Frau stellte die beiden dem Mann vor, der auf dem Korridor unterhalb ihrer Wohnung Dienst tat.
»Meine Nichte und ihr Mann. Herr Jäger und seine Frau Helga – sie sind den weiten Weg von Hamburg herübergekommen, um mich zu besuchen! Ist das nicht herrlich?«
Sie führte die beiden zum Lift, mit dem sie in den fünften Stock hinauffuhren. Sie öffnete die grün gestrichene Tür, und sie betraten die Wohnung. Diese bestand aus einem Zimmer, einer Küche und einer Dusche. In dieser Kleinwohnung wirkten drei Personen wie eine Menschenmenge.
»Ich habe getan, was ich konnte«, sagte sie, »aber man wird nicht gerade dazu ermutigt, sich gemütlicher einzurichten.« Sie zog den Mantel aus und wirkte plötzlich größer und jünger. Ihr gespieltes Gehabe war verschwunden. Sie schüttelte beiden kräftig die Hand.
»Nehmen Sie Platz«, sagte sie. »Ich mache uns Kaffee. Und haben Sie keine Angst, diese Wohnung ist sauber. Ich lasse sie regelmäßig von einem Freund überprüfen. Er arbeitet in einer Elektrofirma.«
Sie hatte ein gewinnendes Lächeln, das ihr gut zu Gesicht stand. Sie war die Witwe eines Gewerkschaftsfunktionärs, der in Auschwitz ums Leben gekommen war, nachdem er sein ganzes Leben dem Kampf für Sozialismus und Freiheit für seine Arbeitskollegen gewidmet hatte. Frieda war ihr Deckname; sie hatte zur kommunistischen Widerstandsbewegung gehört, die während des Krieges in Deutschland tätig gewesen war. Sie war nie entlarvt worden, und ihre Tarnung war so geschickt aufgebaut, daß sie selbst bei der Verhaftung ihres Mannes für so unbedeutend angesehen wurde, daß man sie nur einem kurzen Verhör unterzog. Dabei ging man jedoch so rücksichtslos vor, daß sie ein gebrochenes Nasenbein und drei gebrochene Rippen davontrug. Aber sie war wenigstens wieder frei und konnte ihre Tätigkeit fortsetzen. Die Befreiung ihrer Heimat durch die Sowjets hatte für Frieda und Tausende anderer, linksgerichteter Deutscher die Rechtfertigung für alle bisherigen Leiden bedeutet. In den rauchenden Ruinen Berlins warteten sie alle auf die Befreiung durch die Sowjetarmee. Wie sich diese dann abspielte, brachte Frieda fast um den Verstand. Wilde Orgien mit Plünderungen, Vergewaltigungen, Erschießungen und andere Gewalttaten brachen in der Stadt aus und zogen alle Einwohner, ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht oder politische Einstellung, in einem Strudel mit sich fort. Es gelang Frieda, die sowjetische Kommandantur in ihrem Viertel zu erreichen, wo sie sich in den Ruinen versteckte und auf diese Weise der betrunkenen Soldateska entging, die Haustüren aufbrachen und die Menschen auf die Straße zerrten.
Der sowjetische Kommandant war völlig nüchtern. Sie wurde zu ihm hineingeführt und mußte sich vor ihm hinknien. Sie begann, mit lauter Stimme gegen die Gewaltakte zu protestieren; sie sagte ihm, wer sie sei und daß die Mitgliedschaft in der KP ihren Mann das Leben
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