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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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die deutsche Presse erging zum 1. September 1943 aus Anlass des vierten Jahrestags des Kriegsbeginns folgende Kommentaranweisung: »In diesem Krieg kämpfen wir um unsere nationale Existenz. Es ist der größte Schicksalskampf unsrer Geschichte. Wenn wir diesen Kampf verlören, so würde die deutsche Nation ausgelöscht werden. Wir tragen somit nicht nur die Verantwortung für die lebende Generation, sondern auch für die kommenden wie vor den gewesenen Generationen.« 121
    Eine so eindeutig auf die Erzeugung von Existenzangst ausgerichtete Kriegspropaganda stieß jedoch auch auf Kritik. Die neu geschaffenen SD-Berichte zu Inlandsfragen meldeten im August 1943, Zeitungsartikel wie der im Völkischen Beobachter erschienene Beitrag »Jüdische Weltherrschaft auf den Spitzen der USA-Bajonette« seien kontraproduktiv; solche Stimmen machten »nur die allgemeine Besorgnis schwerer, dass wir den Krieg verlieren und dass jeder einzelne, seine Familie und insbesondere die Kinder ein trauriges und grausames Schicksal erleiden«. 122
    Zwei Beiträge von September 1943 in der badischen Gauzeitung Der Führer scheinen direkt darauf zu antworten. Am 3. September brachte die Zeitung eine Zusammenstellung von 14 Punkten, die als Sprachregelung für »die Kleinmütigen und Verzagten« deklariert wurden. So hieß es beispielsweise in Punkt 2: »Es wird gesagt, wenn das nationalsozialistische Deutschland nicht die Judenfrage so radikal gelöst hätte, dann würde uns heute das internationale Weltjudentum nicht bekämpfen.« »Nur ein seniler Schwachkopf«, konterte das Blatt, »kann so etwas aussprechen. Es ist richtig, die Juden der Vereinigten Staaten haben bereits 1934 den Boykott über deutsche Waren verhängt und uns damit wirtschaftlich den Krieg erklärt. Aber nicht, weil wir die Judenfrage in Deutschland gelöst haben, sondern weil sie in Amerika das nationalsozialistische Wirtschaftssystem fürchteten […] Das kaiserliche Deutschland Bismarcks hat die Juden wirklich liebevoll behandelt. Es hat sie noch nicht einmal angerührt, auch wenn sie offenen Landesverrat betrieben. Und doch hat uns das internationale Judentum den Krieg bis zur Vernichtung erklärt. Der zweite Weltkrieg aber ist nur die Fortsetzung des ersten.« In den Punkten 5 und 6 wurde noch einmal ausdrücklich klargestellt, dass die Behauptung, im Falle einer Niederlage werde das deutsche Volk ausgerottet werden, zutreffend sei.
    Am 23. September 1943 veröffentlichte der berüchtigte Johann von Leers einen weiteren Leitkommentar in derselben Zeitung, in dem er die antisemitische Propaganda ausdrücklich gegen Kritik in Schutz nahm – und eher nebenher die Vernichtung der Juden als einen bereits weitgehend abgeschlossenen Vorgang erwähnte. Leers schrieb: »Dieser Tage hörte ich die unbegreiflich naive Frage: ›Warum reitet ihr denn immer noch auf dem Juden herum? Das Judentum in Europa ist ja zum großen Teil aufgerieben, auch haben wir andere Sorgen heute, mit denen wir uns beschäftigen müssen, haben die feindlichen Fliegerangriffe, das schwere Ringen an den Fronten – ist es da nicht überflüssig, gerade die Judenfrage immer wieder zu behandeln?‹« Um diesen Vorwurf zu entkräften, verwandte Leers einige Mühe darauf, dem Leser die Theorie von der jüdischen Weltverschwörung zu erklären, und fuhr dann fort: »Nur eines kann den Völkern wirklich Sicherheit und Frieden geben – die völlige Niederringung und Niederschlagung des Judentums. Darum, weil wir einen langdauernden Frieden wollen, in dem die ehrlichen Völker gedeihen, darum sprechen wir immer wieder von der Verwerflichkeit und der Schuld der Juden.« 123
    Für diesen Verteidigungsversuch spielte möglicherweise auch das am 12. September 1943 verlesene Hirtenwort der katholischen Bischöfe eine Rolle, in dem diese grundsätzlich die Tötung menschlichen Lebens als verwerflich bezeichnet und mit der Formulierung, dies betreffe ebenfalls »Menschen fremder Rassen und Abstammung«, ihrerseits die umlaufenden Gerüchte über den Mord an den Juden bestätigt hatten. In jedem Fall hatten die Bischöfe für die Veröffentlichung ihrer Botschaft einen Zeitpunkt gewählt, zu dem die »Judenpolitik« des Regimes in der öffentlichen Darstellung in die Defensive geraten war.
    Entsprechend galt das »Schweigegebot« Goebbels’ vom 26. September 1943, das gelegentlich jedoch gebrochen wurde. Ende 1943, als die Ghettos in der Regel aufgelöst, die Deportationen aus den meisten Ländern unter deutscher

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