"Davon haben wir nichts gewusst!"
in Gang zu bringen. 35 Die Mehrheit der Bevölkerung war offensichtlich nicht bereit, ihr Einkaufsverhalten nach »rassepolitischen« Gesichtspunkten auszurichten. Daran sollte sich auch in den kommenden Jahren relativ wenig ändern.
Die Phase scheinbarer Ruhe zwischen Sommer 1933 und Ende 1934
Weitere umfassende antisemitische Gesetzgebungsprojekte stellte die NS-Regierung im Sommer 1933 erst einmal zurück. Konkrete Pläne, Juden die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen und gegen die »Rassenmischung« mit der deutschen Bevölkerung vorzugehen, lagen zwar bereits vor, wurden aber erst 1935 beim Erlass der so genannten Nürnberger Gesetze verwirklicht. Die außenpolitische Isolierung des Regimes, Bedenken der konservativen Koalitionspartner und die prekäre wirtschaftliche Situation ließen eine solche Zurückhaltung opportun erscheinen. Doch trotz der »relativen Ruhe« in der Judenverfolgung während der zweiten Jahreshälfte 1933 und im Jahr 1934 wurden Juden auf Reichs- und auf Länderebene mit Hilfe neuer gesetzlicher Bestimmungen und administrativer Maßnahmen weiterhin diskriminiert und ausgeschlossen, während Teile der Parteibasis, vor allem in der Provinz, den so genannten Boykott jüdischer Geschäfte durch Drohungen gegen die Kundschaft, Verdrängung jüdischer Händler von Märkten et cetera weitertrieben. Gegen solche illegalen »Einzelaktionen« wandten sich jedoch immer wieder staatliche Stellen, so dass insbesondere bei den betroffenen jüdischen Geschäftsleuten der Eindruck entstand, es existiere zumindest noch ein Restbestand an Rechtssicherheit. 36
Entsprechend verhielt sich die Parteipresse: Nach dem Boykott hatte sie ihre antisemitische Kampagne den gesamten April hindurch noch fortgesetzt, sie dann jedoch deutlich zurückgefahren. Im Juli 1933 begann sich die Berichterstattung auf ein »Normalmaß« an antisemitischer Propaganda einzupendeln: Das Thema stand nicht im Vordergrund, wurde aber ausreichend behandelt, damit ein Wiedererkennungseffekt für die Stammleserschaft gegeben war. 1934 ging der Anteil antisemitischer Beiträge noch weiter zurück. Zwar wurde weiterhin in bekannter Manier über Skandale und Kriminalfälle berichtet, in die Juden verwickelt waren, auch über den angeblich großen Einfluss der Juden im Ausland, vor allem die von ihnen ausgehende »Hetze« gegen Deutschland, oder über antisemitische Bestrebungen in anderen Ländern. Die angebliche Dominanz der Juden in Deutschland aber trat in den nationalsozialistischen Blättern als Topos in den Hintergrund. Offensichtlich wollte man den Aktionsdrang der Parteibasis nicht allzu deutlich anheizen. 37
Die Steuerung der Parteipresse war jedoch keineswegs perfekt: Als Goebbels etwa in einer Rede im Sportpalast am 11. Mai 1934 den Propagandafeldzug der Partei gegen »Miesmacher« eröffnete und in einer längeren Passage auch gegen »die Juden« zu Felde zog, verstanden einige Parteiblätter dies als Startsignal für eine erneute antisemitische Kampagne, 38 während sich andere darauf beschränkten, die Rede ausführlich wiederzugeben. 39
Der Westdeutsche Bobachter , der Goebbels’ antisemitische Drohung zitiert hatte, benutzte die Rede als Auftakt, um gegen den angeblich immer noch vorhandenen jüdischen Einfluss im Kulturleben vorzugehen. 40 Am 10. Juni 1934 bekannte sich der Chefredakteur des Blattes, Martin Schwaebe, in einem Leitartikel offensiv zum Antisemitismus der NSDAP und rief dazu auf, den Kampf gegen die Juden fortzusetzen. 41 Auch die in Breslau erscheinende Nationalsozialistische Schlesische Tageszeitung intensivierte ihre antisemitische Propaganda: Sie forderte ausdrücklich zum Boykott jüdischer Geschäfte auf und griff am 23. Mai in einem Leitkommentar noch einmal die antisemitische Passage der Goebbels-Rede auf, um die prinzipielle Unvereinbarkeit von »deutsch« und »jüdisch« zu erklären. 42 Noch heftiger reagierte Goebbels’ Berliner Hausblatt Der Angriff . Am 11. Mai, dem Tag der Goebbels-Rede, veröffentlichte Der Angriff unter der Überschrift »Was dürfen sich Juden schon wieder erlauben?« einen Aufruf an die Leser, der Zeitung »jeden Fall von jüdischer Unverschämtheit mitzuteilen«. Das Blatt habe sich die Aufgabe gestellt, zu »zeigen, wie der Jude sich heute schon wieder benimmt und wie er sich zu benehmen hat«. Es handele sich also »um einen Anstandsunterricht für die geschonten und geduldeten Staatsbürger jüdischen Glaubens«. Am nächsten Tag veröffentlichte Der Angriff
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