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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Politik, was Einstein in der Physik, was Freud in der Erkenntnis, das war Reinhardt in der Kunst; eine Krebskrankheit, die nur aufblühte, wenn sie die Kräfte des Körpers fraß, dem sie ihr Dasein verdankte.« 28 Das war reinster NS-Jargon. Die Deutsche Allgemeine Zeitung hingegen hatte sich wenige Tage zuvor aus Anlass von Reinhardts Rücktritt zwar ebenfalls kritisch über dessen Leistungen geäußert, aber auch hinzugefügt: »Der Name Max Reinhardt wird in dieser Theatergeschichte fortleben, auch wenn er jetzt von den Theaterzetteln der Reichshauptstadt verschwindet.« 29
    Das Berliner Tageblatt , um ein anderes Beispiel zu nennen, setzte sich in seiner Abendausgabe vom 5. April 1933 unter der Überschrift »So geht es nicht« kritisch mit einer Notiz des Völkischen Beobachters auseinander, wonach der Mosse-Verlag (zu dem das Blatt gehörte) 138 jüdische Angestellte entlassen habe. Die Behauptung sei unwahr; das Blatt verwahre sich gegen den Ton des Völkischen Beobachters , der – auch nach der offiziellen Einstellung des Boykotts – immer noch »Salz in die Wunde« streuen wolle.
    Diese differenzierten Reaktionen der nichtnationalsozialistischen Presse auf die »Judenpolitik« des Regimes setzten sich auch in den folgenden Wochen und Monaten fort. Ein Teil der nichtnationalsozialistischen Zeitungen äußerte sich immer wieder zustimmend zur Diskriminierung und Ausgrenzung der Juden und übernahm nationalsozialistische Propagandaschlagworte. Andere Blätter vermieden, wo immer es ging, Kommentierungen zur NS-Judenverfolgung und machten Injurien gegenüber Juden möglichst als Zitate nationalsozialistischer Provenienz deutlich.
     
    Und was wissen wir über die Haltung der Bevölkerung zur »Judenfrage« in dieser ersten Phase der Verfolgung?
    Leider liegen zu wenig gesicherte Informationen vor, um allgemeine Schlussfolgerungen ziehen zu können: Während die deutsche Presse nicht mehr unkontrolliert über die Ereignisse berichten konnte, war der Apparat der staatlichen beziehungsweise parteiamtlichen Berichterstattung über die »Stimmung« der Bevölkerung noch nicht aufgebaut. 30 Wir sind daher im Wesentlichen auf die Berichterstattung der ausländischen Presse, diplomatischer Vertretungen in Berlin sowie auf Beobachtungen einzelner Zeitgenossen angewiesen.
    Dieses Material zeigt im Großen und Ganzen, dass die Masse der Bevölkerung die Blockaden jüdischer Geschäfte – sowohl die »wilden« als auch den offiziellen Boykott – hinnahm. Eine couragierte Minderheit von Bürgern allerdings, das wird gerade in den Erinnerungen jüdischer Zeitgenossen immer wieder betont, kaufte am Tag des offiziellen Boykotts gezielt in jüdischen Geschäften ein und brachte damit ihre Missbilligung zum Ausdruck. 31 Die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung verhielt sich jedoch passiv; für die Menschenaufläufe in vielen Stadtzentren war eher Sensationslust als aggressiver Antisemitismus verantwortlich. Die Times berichtete beispielsweise am 3. April 1933, unter der Masse der Bevölkerung seien spontaner und aktiver Antisemitismus nur wenig, Antipathie und Misstrauen gegenüber jüdischen Geschäftsleuten dagegen weit verbreitet. Ähnliches meldeten verschiedene ausländische Missionen über die Verhältnisse in Deutschland. 32
    Über die Reaktion der Bevölkerung auf die beschriebenen ersten, Anfang April erlassenen antisemitischen Gesetze 33 wissen wir noch weniger: Ihre Einführung stand ganz im Schatten der erst allmählich abklingenden Boykottaktionen. 34 Allerdings wird man sich vergegenwärtigen müssen, dass die Forderung nach Entlassung von Juden aus dem Staatsdienst beziehungsweise aus staatlich regulierten Berufen wie der Anwaltschaft vor 1933 öffentlich nur von der NSDAP erhoben worden war; die rechtskonservativen Bündnispartner vollzogen diese Richtungsentscheidung im Frühjahr 1933 zwar mit, sie hatten sich jedoch nie entschließen können, diese Forderung in ihre Programme aufzunehmen. Es wäre also verfehlt, in den antisemitischen Gesetzen die Verwirklichung einer Forderung zu sehen, die über die Anhängerschaft der neuen Regierung hinaus weithin populär gewesen wäre. Ähnlich verhielt es sich mit den gewaltsamen Eingriffen in das jüdische Geschäftsleben: Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte hatte die NSDAP schon in der Endphase der Weimarer Republik immer wieder organisiert, ohne dass es ihr gelungen wäre, daraus eine über die eigene Anhängerschaft hinausreichende Massenbewegung

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