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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Monat August war in dieser Hinsicht – mit der wichtigen Ausnahme von Leys Artikeln – relativ ruhig. 23

Entschluss zur Kennzeichnung der deutschen Juden und der Abbruch der »Euthanasie«
    Mitte, Ende August verstärkten sich innerhalb des Propagandaapparates indes die Vorbereitungen für eine neue intensive antijüdische Propagandaaktion: Den Anlass hierfür bot die bevorstehende Kennzeichnung der deutschen Juden. 24
    Die Vorgeschichte der Verordnung vom 1. September 1941, mit der deutsche Juden ab dem 19. September zum Tragen eines Kennzeichens gezwungen wurden, ist eng mit der Entwicklung des Krieges im Osten und der Rückwirkung des Krieges auf die Haltung der deutschen Bevölkerung verknüpft – wobei es in unserem Zusammenhang nicht auf die tatsächliche Haltung der Bevölkerung ankommt, sondern darauf, wie das Regime diese Haltung einschätzte . Die Entscheidung zur Kennzeichnung steht ferner in einem nicht auf den ersten Blick erkennbaren, subtilen Kontext zu dem gleichzeitig gefällten Entschluss des Regimes, das Programm zur Ermordung von Anstaltspatienten abzubrechen, und zwar nicht zuletzt im Hinblick auf die negativen Rückwirkungen auf die »Stimmung« gerade in konfessionell gebundenen Bevölkerungskreisen. Die außerordentlich gute Quellenlage für diesen Zeitraum erlaubt uns zu rekonstruieren, wie die Regimespitze die Verschränkung der verschiedenen Faktoren – Volksstimmung, Kriegsentwicklung, »Judenfrage«, »Euthanasie«, Kirchenpolitik – wahrnahm und wie man sich entschloss, die komplexe Problemlage durch eine erneute Offensive gegen »die Juden« in den Griff zu bekommen.
    Die Entscheidung zur Kennzeichnung erfolgte bezeichnenderweise zu einem Zeitpunkt, als der Krieg gegen die Sowjetunion in eine erste Krise geraten war. Bereits seit Ende Juli registrierten die Stimmungsberichte ein Nachlassen der in den ersten Kriegswochen noch großen Siegeszuversicht. 25 Daran waren nicht nur Befürchtungen, der »Ostfeldzug« könne sich zu einem langwierigen Krieg in den Weiten Russlands entwickeln, schuld, sondern auch Faktoren wie Versorgungsmängel, die britischen Luftangriffe auf Westdeutschland sowie die wachsende Beunruhigung vor allem kirchlich gebundener Bevölkerungskreise wegen der willkürlich vorgenommenen Beschlagnahme von Kirchenvermögen 26 und der Ausbreitung von Informationen und Gerüchten über die so genannte Euthanasie. 27 Dramatisch verstärkt wurde diese Beunruhigung insbesondere durch die Predigt des Münsteraner Bischofs Clemens August von Galen, der am 3. August – nachdem er in zwei Predigten im Juli gegen die Übergriffe auf Kirchenbesitz protestiert hatte – offen gegen die Ermordung von Anstaltsinsassen Stellung nahm. Die Nachricht über diesen Protest verbreitete sich in den kommenden Tagen wie ein Lauffeuer im gesamten Reichsgebiet. 28
    Die starke Unruhe unter der Bevölkerung, die durch zahlreiche Quellen bestätigt wird, spiegelt sich auch in der offiziellen Stimmungsberichterstattung. 29 Die Meldungen aus dem Reich, die nationale Übersicht über die SD-Berichte, enthalten zum Thema »Euthanasie« allerdings vor Januar 1942 überhaupt keine Informationen. 30 Dass die Geheimhaltung der Morde an Patienten auf breiter Front durchbrochen worden war, durfte offiziell nicht eingestanden werden; noch weniger beabsichtigte der SD, durch Aufnahme entsprechender Berichte in die weit verbreiteten Meldungen aus dem Reich von sich aus die Diskussion über die »Euthanasie«-Morde anzuheizen.
    Eine Reihe von lokalen und regionalen Stimmungsberichten zeichnet jedoch ein anderes Bild. So berichtete die NSDAP-Kreisleitung Münster, es werde in der Bevölkerung »davon gesprochen, dass die Kranken der Heilund Pflegeanstalten, u.a. auch der Provinzialheilanstalt in Lengerich, zu Gasversuchen gebraucht werden sollen. […] Tatsache ist, dass zu der gleichen Zeit etwa 240 Kranke der Provinzialanstalt Lengerich abtransportiert worden sind, und zwar wurde nicht bekannt, wohin sie gebracht wurden.« 31 Die Ortsgruppe Anholt (Westfalen) gab die Meldung eines NS-Funktionärs wieder, »er habe ein Gerücht gehört, dass sich der Staat der unheilbaren Irren entledige, dass auch die Insassen der Altersheime so ganz allmählich diesen Weg zu gehen hätten«. 32 Die Partei meldete aus verschiedenen Orten aus dem westfälischen Kreis Tecklenburg, es kursiere das Gerücht, die laufenden Röntgen-Reihenuntersuchungen dienten der Selektion von Kranken, die dann »beseitigt« werden sollten. 33

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