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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Öffentlich geäußerte Empörung über das Verhalten von Juden und antijüdische Ausschreitungen (etwa die Schändung jüdischer Friedhöfe durch umgeworfene Grabsteine) kamen nur in geringer Zahl vor; 57 dem steht eine ganze Anzahl von Berichten gegenüber, in denen nichtjüdische Deutsche sich von der Verfolgung distanzierten und Sympathie und Mitleid mit den Juden bekundeten. 58
    Die wenigen Deportationen von jüdischen Menschen, die in diesem Zeitraum stattfanden und in der Propaganda nicht thematisiert wurden, blieben der Bevölkerung offenbar trotzdem nicht vollkommen verborgen. So zeigt eine Meldung des SD aus Bad Kissingen, dass der im Herbst 1939 verfolgte Plan, deutsche, österreichische und tschechische Juden in das Gebiet um Nisko (Generalgouvernement) zu deportieren, bis in die Einzelheiten hinein diskutiert wurde: »Dieses Gebiet soll etwa 300 km groß sein. In diesem Gebiet sollen bereits Juden aus Österreich und der Tschechei eingetroffen sein. Jeder Jude dürfe den Betrag von RM 150 Bargeld mitbringen, der Rest ihres Vermögens werde eingezogen und an minderbemittelte Juden verteilt, die ebenfalls einen Betrag von RM 150 aus den eingezogenen Geldern ihrer Glaubensgenossen erhielten. Weiter sei ihnen gestattet, ein Wäschepaket mit in das Siedlungsgebiet zu bringen. Gleichzeitig wird erzählt, dass alle in Polen lebenden Zigeuner und Vagabunden in dieses Siedlungsgebiet abgeschoben würden, aus dem es kein Zurück mehr gebe, es sei denn, die Insassen des Siedlungsgebietes betreiben ihre Auswanderung nach Russland.« 59 Der Bericht fuhr fort: »Diese Maßnahmen werden unter den Parteigenossen und einem großen Teil [sic!] der Vg. begrüßt, und es werden Vorschläge laut, dass auch die Juden, die noch innerhalb Deutschlands leben, ihren Marsch in dieses Gebiet antreten sollen.«
    Die Sopade-Berichte, die bis zum Frühjahr 1940 fortgeführt wurden, vermitteln nach wie vor in erster Linie den Eindruck, dass die antisemitische Politik durch die Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werde. So kam der Bericht vom April 1940, der in einem längeren Abschnitt die Judenverfolgung thematisierte, zu der Schlussfolgerung, dass das »deutsche Volk in seiner Mehrheit den antisemitischen Exzessen heute weniger Sympathie entgegenbringt denn je«, machte allerdings eine wichtige Ausnahme hinsichtlich der Jugendlichen. 60
    Der Bericht der Sopade für März 1940 stellt einige interessante Überlegungen darüber an, welche langfristigen mentalen Folgen die Tatsache hatte, dass sich viele Menschen äußerlich den Normen der nationalsozialistisch dirigierten Öffentlichkeit anpassten: »Der umfassende Terror zwingt die ›Volksgenossen‹, ihre wirkliche Stimmung zu verbergen, ihre tatsächliche Meinung zurückzuhalten und statt dessen Zustimmung und Zuversicht zu heucheln. Ja, er bringt offensichtlich mehr Menschen dazu, sich schon in ihrem Denken den Forderungen des Regimes anzupassen; sie wagen nicht mehr, sich vor sich selber Rechenschaft abzulegen. Diese äußere Schale der Loyalität, die sich so bildet, kann noch lange halten.« Aber: »Da keiner dem anderen traut und infolgedessen keiner vom anderen weiß, wie er wirklich denkt, kann sich unter dieser Schale ein langer Prozess der Aushöhlung und des Stimmungsverfalls abspielen, ohne dass dieser Prozess sichtbar wird – bis dann auf einmal auch die äußere Schale der Loyalität zerbricht.« 61
    Ab dem Spätsommer 1941 sollte sich die »Judenpolitik« des Regimes dramatisch verschärfen: Unmittelbar nach dem Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion begannen Einsatzkommandos und andere deutsche Verbände in den frisch besetzten sowjetischen Gebieten damit, Angehörige der jüdischen Zivilbevölkerung in großem Umfang zu erschießen. Das musste sich auch auf die Politik gegenüber den übrigen Juden unter deutscher Herrschaft auswirken. Damit bekam die Propaganda wieder ein eindeutiges Ziel. Sie sollte die Bevölkerung nun auf die letzte Eskalation der Judenverfolgung innerhalb Deutschlands vorbereiten: die Deportation.

»Jüdischer Bolschewismus«, Gelber Stern und Deportationen: Anatomie einer Kampagne

Antisemitische Propaganda im Zeichen des Krieges gegen die Sowjetunion
    Mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion griff das Goebbels-Ministerium das antisemitische Thema wieder auf. Bereits am 22. Juni 1941 hieß es auf der Pressekonferenz: »Schließlich ist eine absolute Klärung des Wesens von Plutokratie und Bolschewismus nötig. Beide haben einen

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