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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Eine Reihe ähnlicher Berichte über die Beunruhigung der Bevölkerung durch »Euthanasie«-Gerüchte im Raum Münster, aber auch im gesamten westfälischen Raum sowie am Niederrhein ist für den Zeitraum Juli bis September 1941 nachweisbar. 34
    Dem Regime gelang es zunächst, die negative Stimmung in der Bevölkerung durch die Bekanntgabe weiterer militärischer Erfolge am 6. und vor allem am 9. August zu neutralisieren und erneut ein gefestigtes »Stimmungsbild« herzustellen. 35 Doch Propagandaminister Goebbels zeigte sich, die jüngste Stimmungskrise vor Augen, zu radikalen Maßnahmen entschlossen. Er hatte die noch in Deutschland lebenden Juden als die eigentliche Ursache für den gerade überwundenen Stimmungseinbruch identifiziert: Am 12. August beschäftigte er sich in seinem Tagebuch mit der von ihm – aber nicht nur von ihm – seit längerem verfolgten Idee, 36 die »Juden mit einem Abzeichen [zu] versehen«, da sie sich als »Miesmacher und Stimmungsverderber« betätigten. Durch eine äußere Kennzeichnung, wie sie für Juden im besetzten Polen schon seit November 1939 obligatorisch war, sollten sie isoliert und sichtbar »aus dem deutschen Volk ausgeschieden werden«. 37 Drei Tage später fand im Propagandaministerium eine interministerielle Konferenz statt, auf der unter anderem die Kennzeichnung besprochen wurde. 38
    Zur gleichen Zeit war Goebbels bereit, in der »Euthanasie«-Frage nachzugeben. »Mit einer solchen Debatte würde man nur die Gemüter aufs neue erhitzen. Das ist in einer kritischen Periode des Krieges außerordentlich unzweckmäßig«, notierte er am 15. August. Drei Tage später kam er während eines Besuches im Führerhauptquartier mit Bormann überein, ein striktes Verbot aller Erörterungen konfessioneller Streitfragen zu erlassen. 39
    Als Goebbels Hitler in seinem Hauptquartier traf, wurde ihm sehr schnell klar, dass er es in den vergangenen Wochen nicht nur mit einer momentanen Irritation der Volksstimmung, verursacht durch ausbleibende Siegesmeldungen, zu tun gehabt hatte; vielmehr offenbarte ihm Hitler in einem Gespräch unter vier Augen, dass das »Dritte Reich« soeben eine ernsthafte militärische Krise durchgestanden hatte. 40
    Im Zuge der allgemeinen Erörterung der Lage erklärte sich Hitler, so notierte es Goebbels, mit der Einführung eines »Judenabzeichens« einverstanden, das »von den Juden in der Öffentlichkeit getragen werden muss, sodass also dann die Gefahr beseitigt wird, dass die Juden sich als Meckerer und Miesmacher betätigen können, ohne überhaupt bekannt zu werden. Auch werden wir den Juden, soweit sie nicht arbeiten, in Zukunft kleinere Lebensmittelrationen zuteilen als dem deutschen Volke. Das ist nicht mehr als recht und billig. Wer nicht arbeitet, soll nicht essen. Das fehlte noch, dass beispielsweise in Berlin von 76 000 Juden nur 26 000 arbeiten, die übrigen aber nicht von der Arbeit, sondern von den Lebensmittelrationen der Berliner Bevölkerung leben!«
    Im weiteren Verlauf des Gesprächs drängte Goebbels auf die Abschiebung der Berliner Juden in die besetzten Ostgebiete. Bereits im Sommer 1940 und im Frühjahr 1941 hatte er – vergeblich – entsprechende Vorstöße initiiert. Diesmal schien er Erfolg zu haben: »Im übrigen sagt der Führer mir zu, die Berliner Juden so schnell wie möglich, sobald sich die erste Transportmöglichkeit bietet, von Berlin in den Osten abzuschieben. Dort werden sie dann unter einem härteren Klima in die Mache genommen. […] Der Führer ist der Überzeugung, dass seine damalige Prophezeiung im Reichstag, dass, wenn es dem Judentum gelänge, noch einmal einen Weltkrieg zu provozieren, er mit der Vernichtung der Juden enden würde, sich bestätigt. […] Im Osten müssen die Juden die Zeche bezahlen; in Deutschland haben sie sie zum Teil schon bezahlt und werden sie in Zukunft noch mehr bezahlen müssen.« 41
    In ihrer Diskussion der »Judenfrage« unterschieden Goebbels und Hitler offensichtlich mittelfristige und kurzfristige Ziele: Mittelfristig, also nach dem militärischen Sieg über die Sowjetunion, sollten die deutschen Juden »in den Osten« abgeschoben, dort in die »Mache genommen« werden, die »Zeche bezahlen«, also ein ähnliches Schicksal erleiden wie die osteuropäischen Juden; erinnert sei daran, dass im Monat August die Einsatzgruppen und andere deutsche Mordkommandos damit begannen, ihre Massenexekutionen auf die gesamte jüdische Zivilbevölkerung – Männer, Frauen und Kinder – in den

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