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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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die Formulierung im Bericht der SD-Außenstelle Höxter, die »Kenntlichmachung der Juden mit dem Davidstern ist von der Bevölkerung des hiesigen Bereiches allgemein begrüßt worden«; zwar seien »Diskussionen größeren Umfangs« darüber nicht geführt worden, trotzdem sei »die allgemeine Zustimmung zu dieser Maßnahme sofort zum Ausdruck« gekommen. Treffender kann man die »Meinungsbildung« in einer kontrollierten »Öffentlichkeit« wohl kaum beschreiben. 107
    Allerdings enthalten die lokalen Stimmungsberichte auch direkte Hinweise auf Kritik aus der Bevölkerung. So meldete etwa die SD-Außenstelle Paderborn, die Kennzeichnung werde »nur in Kreisen konfessionell fest gebundener älterer Menschen« kritisiert. 108
    Die Meldungen aus dem Reich vom 24. November 1941 gehen speziell auf die Reaktionen kirchlicher Kreise auf die Kennzeichnung ein, und zwar insbesondere auf Bemühungen, die nun in den Gottesdiensten sichtbar gewordenen »getauften Juden« vor Anfeindungen zu schützen, denn nach dem Inkrafttreten der Verordnung »wurden an den darauffolgenden Sonntagen verschiedene Kirchenbesucher bei ihren Ortsgeistlichen vorstellig. Sie verlangten, dass die Juden nicht mehr die gemeinsamen Gottesdienste besuchen dürften und dass man von ihnen nicht verlangen könne, dass sie neben einem Juden die Kommunion empfangen sollen.«
    Besondere Aufmerksamkeit verwandte der Bericht auf ein Flugblatt, das von der Breslauer Stadtvikarin verfasst und in verschiedenen Teilen des Reichsgebietes verbreitet wurde. In dem Flugblatt wurde daran erinnert, es sei »Christenpflicht, sie [die Juden] nicht etwa wegen der Kennzeichnung vom Gottesdienst auszuschließen«. Es folgte eine Reihe praktischer Vorschläge, wie die gekennzeichneten Gemeindemitglieder durch die Gemeinden geschützt werden könnten.
    Die Meldungen aus dem Reich zitierten ferner ausführlich aus zwei Rundschreiben, die vom Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, Kardinal Bertram, und vom Wiener Kardinal Innitzer stammten. Beide wandten sich gegen die Absicht, die nun gekennzeichneten Juden zu einer »Judenchristengemeinde« mit eigenem Gottesdienst zusammenzufassen oder sie sonstwie von der übrigen Gemeinde abzusondern. 109
    Offensichtlich war jedoch die Missstimmung über die Einführung der Kennzeichnung – insbesondere in Berlin – wesentlich stärker, als es die Berichte glauben machen wollten; die geradezu wütenden Maßnahmen Goebbels’ gegen diejenigen, die der Kennzeichnungsverordnung kritisch gegenüberstanden und Solidaritätsbekundungen gegenüber Juden zeigten, wären sonst nicht verständlich.
    Am 6. Oktober empfahl Goebbels auf der Propagandakonferenz, mit der Gestapo zu vereinbaren, »ohne etwas darüber zu veröffentlichen, in Zukunft alle Leute ohne Judenstern, gleichgültig ob in Breslau oder auf dem Kurfürstendamm in Berlin, die in Begleitung von Leuten mit Judenstern angetroffen werden, dingfest zu machen und dann – sofern es sich nicht um Ausländer handelt – entweder ins KZ oder eine Zeitlang in eine Munitionsfabrik zu stecken«. Als Vorbild diente ihm eine entsprechende Anweisung, die Reinhard Heydrich für das Protektorat Böhmen und Mähren getroffen hatte. 110 Tatsächlich wurde eine solche Regelung wenige Tage später in Form einer Polizeiverordnung erlassen: Wer »in der Öffentlichkeit freundschaftliche Beziehungen zu Juden« erkennen lasse, sei in »Schutzhaft« zu nehmen und bis zu drei Monaten in Konzentrationslager einzusperren. 111 Die Verordnung wurde jedoch nicht im Wortlaut veröffentlicht, sondern im November inhaltlich in einem Goebbels-Artikel (auf den noch eingegangen wird) wiedergegeben und entsprechend im Rundfunk propagiert. Erst mit diesem Mittel, unerwünschte Kontakte mit Juden zu unterbinden, an der Hand, sollte Goebbels die nächste antisemitische Kampagne in Gang setzen, um die vom Regime erwünschte Distanz zu Juden einzufordern.

Der Beginn der Deportationen
    Die Stimmung der deutschen Bevölkerung begann sich, so nahm es das Regime wahr, in der zweiten Septemberhälfte unter dem Eindruck neuer Sondermeldungen von der Ostfront wieder aufzuhellen 112 – allerdings in einem Ausmaß, das den Propagandaminister schon wieder beunruhigte, ging seiner Ansicht doch zumindest zum Teil »die Stimmung des Volks weit über die realen Möglichkeiten hinaus«. 113
    Die optimistische Stimmung in der Bevölkerung, die der Berichterstattung des Regimes zufolge bis Ende des Monats Oktober anhielt, 114

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