Days of Blood and Starlight
nur um uns herumgeflogen. Zwischen uns. Sie haben die Engel zurückgetrieben.«
Karou legte auf ihre charakteristische Art den Kopf schräg, und am liebsten hätte Ziri seine Hand – seine geheilte Hand – ausgestreckt und an ihren langen, hübschen Hals gelegt. Ich möchte sie an mich ziehen , dachte er und errötete bei der Erinnerung an die Wärme ihres Körpers, als sie Seite an Seite in ihrem Bett gelegen hatten, ich möchte sie einfach in den Arm nehmen und festhalten . Schnell wandte er sich ab und starrte mit hartem, unverwandtem Blick an die Wand.
Seine Hand pochte, als würde das kleine Wesen, das er darin umfasst hielt, noch leben. Doch es war nur sein eigenes Blut, das durch seine Adern pulsierte … weil er noch lebte. Er verstand es selbst nicht, und er wusste auch nicht, was er noch sagen sollte. Also streckte er die Hand aus und öffnete sie.
Karou starrte den winzigen geflügelten Leichnam an, und ihr Gesicht war so ausdruckslos, so verständnislos, dass Ziri zum hundertsten Mal daran zweifelte, dass dieses blauhaarige Menschenmädchen wirklich Madrigal war. Wenn sie es wäre, dann hätte sie das doch unmöglich vergessen können.
Doch dann wurden ihre Augen plötzlich groß, und sie sah völlig verblüfft zu ihm auf.
Es war eine Kolibrimotte, ein Vögelchen, so klein wie ein Insekt. Die pelzigen Flügel waren hellgrau und zerdrückt; der kleine Körper war leuchtend grün mit einem scharlachroten Band um den Hals. Als die Vögel gekommen waren – Vögel jeglicher Art, Vögel des Tages und der Nacht, Schattenlerchen, Evangelinen, fledermausgeflügelte Krähen und Blutgeier, Singvögel, Raubvögel und sogar Sturmjäger mit schneebedeckten Flügeln –, hatte Ziri sofort gewusst, dass hier seine Chance war zu entkommen. Dazu musste er allerdings erst eine Hand freibekommen. Die Schwerter waren so tief in die Erde gerammt, dass sie sich nicht bewegen ließen, also hatte er die Zähne zusammengebissen und einfach … gezogen. Zum Glück waren die Klingen scharf. Mit einem qualvollen Schrei kam seine Hand frei, rotes Pulsieren trübte seine Sicht, Chaos und Adrenalin ertränkten einen Teil des Schmerzes, und irgendwie schaffte er es, mit seiner zerfleischten Hand das andere Schwert herauszuziehen.
Die Seraphim versuchten, ihn zu packen. In seinen durchbohrten Händen konnte Ziri keine Waffe halten, also senkte er den Kopf und ging mit seinen Hörnern auf einen der Soldaten los. Die Hörner waren nicht spitz genug, um das Kettenhemd des Engels zu durchdringen, aber die Wucht des Zusammenstoßes warf ihn zu Boden. Blitzschnell holte Ziri mit dem Knie aus und zertrümmerte ihm die Kehle. Einen anderen Seraph fegte er mit einem weiten, niedrigen Tritt von den Füßen, und dann war er auf der Suche nach Jael, denn er wollte sein Versprechen wahr machen und den Kommandanten der Dominion töten – aber er konnte ihn nicht finden. Der Sammelstab steckte immer noch im Boden, also ergriff er ihn mit seiner verstümmelten Hand, während der Vogelschwarm um ihn herum zu einem Orkan anwuchs. Durch den Sturm von Federn konnte er seine Feinde kaum sehen – oder sie ihn.
Im ohrenbetäubenden Rauschen der Flügel beschloss er zu fliegen.
Er hielt nicht inne, um sich zu fragen, wie oder warum die Vögel gekommen waren, und es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass ein wer dahinterstecken musste, bis er weit, weit weg war und sich erschöpft gegen einen Baum sinken ließ. Die Kolibrimotte war tot, als er sie entdeckte. Sie hatte sich in seinem Kettenhemd verfangen, ein kleines Opfer des Chaos und – wie es ihm sofort schien – ein Zeichen.
»Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob … er … sie geschickt hat«, erklärte Ziri Karou zögerlich.
»Er?« Karou war argwöhnisch. »Ich weiß nicht, wen du meinst.«
Ziri musterte sie lange und aufmerksam. Sie hatte wirklich nicht die geringste Ähnlichkeit mit Madrigal. Ihre Gesichtsform war anders, ihre Augen waren schwarz, nicht braun. Ihr Mund war schmaler, ihre Haare waren blau, sie hatte keine Hörner, sie war ein Mensch. Er erinnerte sich noch so gut an Madrigal – an den Maskenball, den Anfang vom Ende –, und Karou schien mit alldem so wenig zu tun zu haben, dass er ihre Leugnung fast glauben konnte. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob sie wirklich Bescheid wissen musste. Schließlich war es nicht so, als wollte er über den Engel reden. Über ihren Geliebten. Vielleicht war es genug, dass er ihr die tote Kolibrimotte gezeigt hatte.
Weitere Kostenlose Bücher