Days of Blood and Starlight
brauchten sie Flügel. Auf der Reise hierher hatten die wenigen von ihnen, die bereits fliegen konnten, all diejenigen getragen, die es nicht konnten – sie hatten mehrmals hin und her fliegen müssen, und wer zu groß war, um getragen zu werden, wurde getötet und in einem Turibulum über die Grenze gebracht. Diesen Tag würde Karou niemals vergessen. Und jetzt, wo sie hier waren, blieb den flügellosen Chimären nichts anderes übrig, als simplen Wachdienst zu schieben, bis sie ihnen einen neuen Körper erschuf. Erst dann würden sie sich den Angriffen auf Eretz anschließen können.
So einfach war das. Einfach, ha … Karou schauderte schon beim Anblick der Kreatur zu ihren Füßen, denn sie wusste, dass Amzallags letzter Körper – der letzte der unzähligen Körper, die Brimstone für ihn geschaffen hatte – wie ein altes Paar Schuhe weggeworfen worden war, nur damit er das hier werden konnte. Für einen Moment spürte sie, was seine Opfer spüren würden; das kalte Entsetzen und die absolute Gewissheit, dass es vor diesen gigantischen schwarzen Schwingen kein Entrinnen gab. Ihre Finger wurden klamm. Was zur Hölle mache ich hier?
Was erschaffe ich hier?
Und … Was habe ich auf die Menschenwelt losgelassen?
Es war, als würde sie aus einem Traum erwachen und für einen kurzen Moment die grausame Realität erkennen, bevor der Schlaf sie wieder überwältigte. Genauso schnell, wie es aufgeflammt war, ließ ihr Entsetzen wieder nach. Sie verstärkte ihre Armee, und das war nichts anderes als ihre Pflicht. Wer würde sonst die Seraphim für all die Grausamkeiten büßen lassen, die sie ihrem Volk, ihrer Familie angetan hatten?
Zwar war sie ein Risiko eingegangen, als sie die Chimären in die Menschenwelt gebracht hatte, aber dieser Ort war von jeglicher Zivilisation abgeschnitten und vergessen. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand sie hier entdecken würde, war mehr als gering. Und wenn eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf flüsterte, dass die Gefahr trotzdem zu groß war, dann musste sie einfach lernen, sie auszublenden.
Karou atmete tief durch. Jetzt musste sie nur noch Amzallags Seele in seinen neuen Körper führen, und das ließ sich mit Hilfe des Weihrauchs schnell erledigen. Sie griff sich einen Räucherkegel und wandte sich wieder Thiago zu. Wie sie zu ihrer Erleichterung feststellte, hatte er sein Hemd wieder angezogen. Er wirkte sehr müde, die Augen schienen ihm fast zuzufallen, aber er rang sich ein Lächeln ab, als er ihrem Blick begegnete.
»Bist du bereit?«, fragte er.
Sie nickte und zündete den Räucherkegel an.
»Braves Mädchen.«
Die Worte und sein sanfter Tonfall machten sie wütend. Bin ich das wirklich?, fragte sie sich, als sie auf die Knie sank, um die Toten wiederzuerwecken.
Auferstanden
Als die Sklavenkarawane das totenstille Dorf erreichte, fand es im ersten Moment niemand seltsam, dass Scharen von Blutgeiern darüber am Himmel kreisten. Die Seraphim-Patrouille, der sie folgten, zog eine Schneise der Verwüstung durch das Land, und so hätten sie sich wahrscheinlich mehr gewundert, wenn sie keine Blutgeier vorgefunden hätten. Normalerweise jedoch waren es die Leichen von Bestien, die sie anzogen.
Diesmal nicht.
Die Toten waren am Aquädukt aufgehängt: acht Seraphim mit weit ausgebreiteten Schwingen. Aus der Ferne sah es fast so aus, als würden sie lächeln. Aus der Nähe schockierte ihr Anblick selbst Sklavenhändler.
Ihre Gesichter …
»Wer hat das getan?«, stieß jemand hervor, auch wenn die Antwort direkt vor ihnen geschrieben stand. Auf einem der Grundpfeiler des Aquädukts war mit Blut eine Botschaft hinterlassen worden.
Aus der Asche sind wir auferstanden, stand da.
In panischer Angst sandten die Sklavenhändler Boten nach Astrae. Da sie nur mangelhaft bewaffnet waren, blieben sie nicht, um die Leichen herunterzuholen, sondern eilten weiter, die Chimären mit ihren Peitschen vorantreibend. Die Gefangenen hatten beim Anblick der toten Seraphim eine sichtbare Veränderung durchgemacht: Sie wirkten plötzlich wacher, eifriger, fast ungeduldig. Nicht nur die Blutschrift war eine Botschaft, sondern auch das Lächeln.
Die Mundwinkel der Engel waren sorgfältig aufgeschlitzt und zu einem totenstarren Grinsen ausgeweitet worden. Sowohl Sklaven als auch Sklavenjäger wussten, was das zu bedeuten hatte, und alle Augen weiteten sich; die einen aus Angst, die anderen in gespannter Erwartung.
Als die Nacht hereinbrach, schlug die Karawane ihr Lager auf und
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