Days of Blood and Starlight
aber auch die von Madrigal gehörten zu ihr: ihre beiden Identitäten, deren Aufeinandertreffen sie immer wieder durcheinanderbrachte. Es war nicht wirklich Disharmonie. Karou war Madrigal, aber ihre Reaktionen wurden von ihrem menschlichen Leben geprägt und vom Luxus des Friedens, und manche Dinge, die Madrigal vielleicht ganz normal erschienen wären, erschütterten sie anfangs noch. Verkohlte Köpfe, die an Bäumen aufgehängt waren? Madrigal hatte in ihrem Leben schon genug Grausamkeit gesehen, so etwas schreckte sie nicht weiter.
Aber zu Madrigals Lebzeiten hatten die Chimären ihre Toten noch begraben, wenn sie konnten. Auf dem Schlachtfeld hatten sie zwar oft nur die Seelen eingesammelt und die Körper liegengelassen, aber nur, wenn sie keine andere Wahl hatten. Die Toten als Zielscheibe zu missbrauchen war einfach … bestialisch. Wie entsetzlich hatten die letzten achtzehn Jahre sein müssen, dass die Chimären bereit waren, einen solch grundlegenden Aspekt der Zivilisation wie das Begräbnis aufzugeben?
Jetzt lehnte Ten sich vor und raunte ihr zu: »Thiago braucht dringend mehr Soldaten, und er braucht sie schneller.«
»Es würde mich aber nur noch mehr Zeit kosten, dich einzuarbeiten.«
»Bestimmt gibt es irgendwas, was ich machen könnte.«
O ja, es gab sogar alles Mögliche – Ten könnte die Räucherkegel formen, die Zähne reinigen, den Schmerztribut zahlen – aber schon allein bei der Vorstellung zog sich Karous Magen zusammen. Nicht ausgerechnet Ten. Die Wölfin arbeitete schon seit Jahren für Thiago, sie gehörte zu seiner persönlichen Leibwache und folgte ihm auf Schritt und Tritt wie ein treues Hündchen.
Und sie war im Requiem-Hain dabei gewesen.
»Ein Schmied wäre hilfreicher«, sagte Karou schließlich. »Um die Zähne vor dem Auffädeln mit Silber zu beschlagen.«
»Aegir ist beschäftigt. Er schmiedet Waffen.« An Tens Tonfall hörte man, dass das Auffädeln von Zähnen ihrer Ansicht nach unter Aegirs Würde wäre.
»Und was schmiede ich? Schmuck?«, gab Karou im gleichen Tonfall zurück. Sie begegnete Tens funkelnden Augen, die golden-braun waren wie bei einem wirklichen Wolf, nicht so unnatürlich eisblau wie bei Thiago. Er sollte sich der Weiße Sibirische Schlittenhund nennen , dachte Karou gereizt.
»Thiago braucht Aegir.« Tens Stimme wurde lauter, zorniger.
»Es überrascht mich nur, dass er dich anscheinend nicht braucht.« Wer kämmt ihm denn dann die Haare?
»Er weiß, wie wichtig es ist, dass ich dir helfe.«
Tens Worte klangen hart und herausfordernd, und Karou dämmerte allmählich, dass sie diese Diskussion wahrscheinlich nicht gewinnen würde und dass ihre Argumente gegen Tens Hilfe auch nicht wirklich überzeugend waren. Im Grunde konnte sie Thiagos Standpunkt durchaus nachvollziehen; sie war kein Brimstone, so viel stand fest. Der Weiße Wolf versuchte, eine Rebellion zu starten, und es gab immer noch unzählige flügellose Soldaten, die auf ihren Gang in die Grube warteten, ganz zu schweigen von dem Berg von Turibula in Karous Zimmer, der einfach nicht kleiner zu werden schien.
Und die Patrouillen, die er als erste Angriffswelle losgeschickt hatte, waren immer noch nicht zurück.
Wenn ihnen etwas zugestoßen war … Schon bei dem Gedanken wollte Karou nur zu Boden sinken und weinen. Von den dreißig Soldaten war die Hälfte neu erschaffen – schwer erkauft mit ihrem Schmerz, wie die frischen Blutergüsse an ihren Armen allzu deutlich zeigten.
Zur anderen Hälfte gehörte Ziri, der Einzige in der Kompanie, von dem Karou ziemlich sicher war, dass er bei ihrer Hinrichtung nicht gejubelt hatte.
Ziri.
Wie Thiago gesagt hatte, war noch Zeit. Karou seufzte und rieb sich die Schläfen, was Ten als Einwilligung auffasste. Ihre Lefzen verzogen sich zu der Wolfsversion eines Lächelns.
»Gut«, sagte sie. »Wir fangen direkt nach dem Essen an.«
Was? Nein. Karou überlegte gerade, ob sie die Diskussion wiederaufnehmen sollte, als sie aus dem Augenwinkel sah, wie eine große Gestalt den Saal betrat und wie angewurzelt stehen blieb. Sie kannte diese Gestalt. Und das war nur recht und billig, immerhin hatte sie sie gerade erst erschaffen.
Es war Razor.
Engelfreundin
Alle Gespräche im Saal verstummten. Alle Köpfe wandten sich Razor zu, der auf der Schwelle verharrt hatte und Karou direkt ins Gesicht starrte.
Ihr Magen zog sich zusammen. Das hier war immer der schwierigste Teil. Es gab Chimären wie Amzallag, die in die Grube gingen und beim Aufwachen
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