de la Cruz, Melissa - The Immortals 1
hatte mit den Schwestern und Krankenpflegern Verstecken gespielt. Jeden Sonntag aß sie im Café zu Mittag, wo die Kellner ihr Extraportionen Schinken, Eier und Waffeln auf den Teller packten.
Auf dem Gang traf sie die Betreuerin ihrer Mutter.
»Es ist ein guter Tag«, informierte die Krankenschwester sie lächelnd.
»Das ist ja toll!« Skyler lächelte zurück.
Kurz nach Skylers Geburt war Allegra ins Koma gefallen. Skyler fand die Mutter meistens friedlich in ihrem Bett liegend vor, Allegra atmete dann flach und rührte sich nicht.
Aber an guten Tagen geschah etwas: ein Flattern der geschlossenen Lider, eine Bewegung der großen Zehe, ein Zucken im Gesicht. Hin und wieder seufzte ihre Mutter ohne sichtlichen Grund.
Skyler dachte an die Diagnose, die die Ärzte vor fast zehn Jahren gestellt hatten: »All ihre Organe funktionieren. Sie ist vollkommen gesund und hat sogar normale Schlaf-wach-Muster. Sie ist keineswegs hirntot. Die Neuronenverbindungen funktionieren, aber sie bleibt bewusstlos. Es ist uns ein Rätsel.«
Überraschenderweise waren die Ärzte immer noch überzeugt davon, dass Allegra unter den richtigen Umständen wieder aufwachen würde. »Manchmal ist es ein Lied. Oder eine Stimme aus der Vergangenheit. Irgendetwas löst den Impuls aus und sie wachen auf. Wirklich, dies könnte jederzeit passieren.«
Cordelia glaubte fest daran, dass dies stimmte. Sie ermutigte Skyler, Allegra immer wieder etwas vorzulesen. Vielleicht würde die Mutter eines Tages auf die Stimme ihrer Tochter reagieren.
Skyler bedankte sich bei der Frau und spähte durch das kleine Glasfensterchen in der Tür, durch das die Schwestern ihre Patienten überwachen konnten, ohne sie zu stören.
Da war ein Mann im Zimmer.
Sie legte ihre Hand auf den Türknauf und spähte erneut durch das Glas.
Der Mann war fort.
Skyler blinzelte. Sie hätte schwören können, einen Mann gesehen zu haben. Einen grauhaarigen Mann in einem dunklen Anzug, der mit dem Rücken zur Tür am Bett ihrer Mutter gesessen und ihre Hand gehalten hatte. Seine Schultern hatten gebebt, der Mann hatte anscheinend geweint.
Das war jetzt das zweite Mal. Skyler war weniger besorgt als neugierig. Das erste Mal hatte sie ihn vor einigen Monaten gesehen, als sie das Zimmer verlassen hatte, um ein Glas Wasser zu holen. Als sie zurückkehrte, war sie erschrocken, jemanden im Zimmer vorzufinden. Aus den Augenwinkeln hatte sie einen Mann bei den Vorhängen stehen und aus dem Fenster über den Hudson River blicken sehen. Doch in dem Moment, als sie in den Raum trat, war er verschwunden. Sie hatte sein Gesicht nicht gesehen – nur den Rücken und das kurze, graue Haar.
Zuerst hatte sie sich vor ihm gefürchtet und überlegt, ob er ein Gespenst war oder eine Halluzination. Doch sie hatte das Gefühl, den namen- und gesichtslosen Besucher von irgendwoher zu kennen.
Skyler drehte den Türknauf und ging ins Zimmer. Sie legte die dicke Sonntagszeitung auf den Rolltisch beim Fernseher.
Ihre Mutter lag mit über dem Bauch gefalteten Händen im Bett. Ihr hellblondes Haar, lang und seidig, leuchtete auf dem Kissen. Für Skyler war sie die allerschönste Frau der Welt.
Skyler sah sich noch einmal im Zimmer um. Sie spähte in das Bad, das ihre Mutter noch nie benutzt hatte, und zog die Vorhänge vorm Fenster zurück, um zu sehen, ob sich jemand dahinter versteckte. Doch da war niemand.
Enttäuscht nahm Skyler ihren Platz neben dem Bett ein.
Sie schlug die Sonntagszeitung auf. Was würde sie heute vorlesen? Krieg? Finanzkrise? Schießerei in der Bronx? Skyler entschied sich für die Boulevardseiten, in denen Anzeigen und Artikel über Hochzeiten und Partys standen. Manchmal, wenn Skyler ihr die Hochzeitsanzeige von Prominenten vorlas, wackelten Allegras Zehen.
Skyler begann zu lesen. »Courtney Wallace hat Hamilton Fisher geehelicht. Die Braut, 31, eine Harvard-Absolventin …« Sie sah hoffnungsvoll zu ihrer Mutter. Nichts regte sich auf dem Bett.
Skyler probierte es daher mit einer anderen. »Marjorie Fieldcrest Goldman heiratete Nathan McBride. Die Feier fand gestern Abend im Tribeca Rooftop statt. Die 28 Jahre alte Braut, Mitherausgeberin der …«
Immer noch nichts.
Skyler durchsuchte die Annoncen. Sie konnte niemals vorhersagen, was ihrer Mutter gefiel. Anfangs dachte sie, es wären die Neuigkeiten über New Yorker Familien, die sie kannte. Aber ebenso oft reagierte ihre Mutter auf eine Filmrezension oder wissenschaftliche Artikel.
Ihre Gedanken drifteten wieder ab
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