Dead Beautiful - Deine Seele in mir
York. Gideon, glaub ich, ist hier aus derGegend. Vielleicht New Hampshire. Und Vivian, was weiß ich? Würd mich nicht wundern, wenn sie ihre Familie umgebracht und verspeist hätte.
Cassandra hat ihre ganze Familie bei einem Skiunfall verloren, bevor sie ans Gottfried kam, und hat alles geerbt. Grundsätzlich ist ihre Großtante ihr Vormund, soweit ich weiß, aber in den Ferien hat sie sich immer an Yagos Familie gehängt. Oder an ihren Freund, Benjamin. Bis er, na ja … weißt du ja eh schon. Der Herzanfall.« Eleanor klappte ihr Buch zu und fuhr mit dem Finger durch die Kerzenflamme hin und her, während sie darauf wartete, dass ich die offensichtliche nächste Frage stellte.
»Was ist mit Dante?«
Sie setzte sich aufrecht hin und verengte ihre Augen theatralisch zu Schlitzen. »Der ist der Seltsamste von allen. Offenbar ein Waise. Sagt er zumindest. Er verlässt Attica Falls selbst in den Ferien nicht, nicht mal über Weihnachten.«
Attica Falls. Die Tankstelle, der Gemischtwarenladen, der Imbiss. Wie eine Geisterstadt. Eine streunende Katze und ein rostiger Pick-up als einzige Lebenszeichen. »Wo wohnt er denn?«, wollte ich wissen.
»In einer alten Pension. Ich kenn’s nur von außen, aber sieht deprimierend aus.«
»Kein Wunder, dass sie alle so eng befreundet waren«, murmelte ich. »Sie hatten sonst niemanden.« Die Situation konnte ich sehr gut nachfühlen.
»Ich weiß. Kannst du dir das vorstellen, keine Familie zu haben?«
»Ja«, sagte ich leise. »Kann ich.«
Eleanor wurde still und ich spürte gleich das Unbehagen, das sich verlässlich breitmachte, wenn ich den Tod meiner Eltern erwähnte.
»Moment, woher weißt du das alles? Von deinem Bruder?«
Eleanor schüttelte den Kopf. »Schon vergessen? Cassie war meine Mitbewohnerin.«
Freitagmorgen standen wir früher auf als sonst, wegen unserer ersten Stunde Gartenbau. Alle anderen Fächer fingen um acht an, aber aus irgendeinem Grund war Gartenbau schon um sechs. Hatte wohl irgendwas mit den Pflanzen und der Sonne zu tun, nahm ich an. Eleanor war auch im Kurs, und während ich darauf wartete, dass sie sich fertig machte, konsultierte ich meinen Stundenplan.
Gartenbau Fr 6.00 h Kapelle
»He. Unser Kurs findet in der Kapelle statt?«
»Scheint ganz so«, sagte Eleanor und wickelte sich in einen Wollrock, während sie gleichzeitig versuchte, sich das Haar zurückzustecken. »Echt eine Ironie, wenn man bedenkt, zu was für einer unchristlichen Zeit wir dafür rausmüssen.« Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel und schnappte sich ihre Tasche. »Okay, auf geht’s.«
Es war ein klarer Herbstmorgen. Über den kopfsteingepflasterten Weg, unter den riesigen Eichen hindurch, wanderten wir zur Kapelle im westlichsten Winkel des Schulgeländes. Sie wirkte trostlos, mit gotischen Türmchen, die nach finsterstem Mittelalter aussahen. Die Bögen schienenalle krumm und schlaff, als wären sie müde geworden nach zu vielen Jahren des Geradestehens. In die Fassade waren Heiligenstatuen gehauen, die das Tor mit ausdruckslosen, leeren Augen flankierten. An den Steinfiguren zeigten sich die Flecken von hinablaufendem Wasser und zwischen zwei Apostel war ein Vogelnest gezwängt.
»Die ist schon ewig außer Betrieb«, sagte Eleanor. »Vor hundert Jahren oder so war das Gottfried eine Konfessionsschule, aber dann wurde die Kapelle geschlossen. Angeblich wird sie restauriert, nach irgendeinem Brand vor Jahren, aber ich hab noch nie jemanden dran arbeiten gesehen.«
Wir gingen auf das hohe, eisenvernietete Tor zu und versuchten, es zu öffnen, aber es war versperrt. Eleanor und ich sahen einander ratlos an. Ich rüttelte ein paarmal an den Knäufen und hämmerte frustriert gegen das Tor, doch es war zwecklos.
»Wahrscheinlich fällt die Stunde aus«, sagte Eleanor gut gelaunt. »Am besten gleich zurück ins Wohnheim.«
Ich wollte ihr gerade zustimmen, als von hinter dem Gebäude Gemurmel zu uns drang. Der ganze Kurs stand in einer Art überwuchertem Friedhof. Es war eine kleine Klasse: ich, Eleanor, ein Zwillingspaar aus unserem Stockwerk namens April und Allison, ein paar Jungen, die ich noch nie gesehen hatte, und ein süßer Typ, der Wes geradezu unheimlich ähnlich sah. Eleanor und ich gesellten uns zu ihnen.
Professor Betty Mumm war eine kleine Frau, die etwas von einem Vogel hatte. Ihr Gesicht war wettergegerbt und faltig und ihr kurzes, braunes Haar war zu einer Jungenfrisur geschnitten. So stand sie vor uns im
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