Dead Beautiful - Deine Seele in mir
zu bedeuten hatten? War ich nicht dabei gewesen, als meine Eltern bestattet wurden? »Weil man’s halt so macht«, platzte ich heraus. »Wenn Leute sterben, beerdigen wir sie. Warum muss alles einen Grund haben?«
»Genau!« Mr B. ergriff den Bleistift hinter seinem Ohr und begann damit zu gestikulieren. »Wir haben einfach vergessen , warum wir die Toten beerdigen.
Stellen Sie sich vor, Sie leben in der Antike. Ihr Vater stirbt. Wie kämen Sie denn drauf, ihn in eine sechseckige Holzkiste zu stecken, die Kiste zuzunageln und sie dann sechs Fuß unterm Erdboden zu vergraben? Das sind doch keine willkürlichen Entscheidungen, Leute. Warum sechseckig? Warum sechs Fuß tief ? Und warum überhaupt in einer Kiste? Und warum hat sich jede Gesellschaft , die ganzeWeltgeschichte hindurch, ein spezielles, ritualisiertes Verfahren zugelegt, um ihre Toten loszuwerden?«
Niemand antwortete.
Aber gerade als Mr B. fortfahren wollte, klopfte es an die Tür. Alle drehten sich um und Mrs Lynch steckte den Kopf ins Klassenzimmer. »Professor Bliss, die Rektorin möchte Brett Steyers im Büro sprechen. Dringend.«
Professor Bliss nickte und Brett schnappte sich seine Tasche und stand auf.
Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, ging Mr B. zur Tafel und zeichnete das unglaublich missratene Bild einer Mumie, die eher einem haarigen Strichmännchen glich. »Die alten Ägypter pflegten den Toten das Hirn rauszuziehen, bevor sie sie mumifizierten. Warum um Himmels willen sollten sie so was machen?«
Es herrschte geplättete Stille.
»Nachdenken, Leute! Es muss einen Grund geben. Warum das Gehirn? Was wollten die bewahren?«
Als keiner etwas sagte, beantwortete er sich die Frage selbst.
»Den Geist!«, stieß er ungeduldig hervor. »Die Seele!«
Trotz aller Vorsätze, aufzupassen und mitzumachen, verbrachte ich die Stunde hauptsächlich damit, mit Eleanor Zettelchen zu schreiben. Professor Bliss war zwar ein begeisterter Redner, aber er wiederholte sich und war von seinem Stoff, Tod und Unsterblichkeit, geradezu besessen. Als er sich zur Tafel drehte, um die Hieroglyphe für Ra zu malen, faltete ich den Zettel auf, den mir Eleanor zugesteckt hatte.
Wer ist süßer:
A. Professor Bliss
B. Brett Steyers
C. Dante Berlin
D. Die Mumie
Ich musste lachen. Eine halbe Sekunde lang schwankte meine Hand zwischen B und C . Ob man Dante als süß bezeichnen konnte, wusste ich nicht. Umwerfend gut aussehend und mysteriös hätte es besser getroffen. Doch ich entschied mich schließlich für D . Daneben schrieb ich: Offensichtlich! und warf ihr den Zettel in einem unbeobachteten Moment auf den Tisch. Eleanor verdrehte die Augen, kritzelte etwas darunter und warf zurück.
Hat er dich schon geküsst?
Ich schrieb ein einziges Wort darunter: Nein!
Sie schob mir eine längere Antwort rüber und ich faltete den Zettel in meinem Schoß auseinander:
Worauf wartet er denn noch? Vielleicht weiß er nicht, wie er es anstellen soll, und schaut deshalb so tiefsinnig.
Ich lächelte und kritzelte meine Antwort drunter. Das hatte mich auch schon beschäftigt.
Vielleicht mag er mich nicht auf die Art. So viel weiß ich gar nicht über ihn. Er wehrt alle Fragen ab. Und er hat mich einen »Freund« genannt.
Eleanor sah verwirrt aus, als sie das las. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie den Zettel in der Faust zerknüllte und in ihre Tasche fallen ließ. Dann formte sie mit den Lippen ein stummes »Nachher« und konzentrierte sich auf die Tafel.
Gerade als Mr B. sich umdrehte, um wieder etwas an die Tafel zu schreiben, traf mich ein gefaltetes rosa Blatt am Arm und fiel zu Boden. Ich hob es auf und strich es glatt. In verschnörkelter blauer Handschrift, die nicht nach Eleanors aussah, stand darauf:
Wie das Wachs die Kerzenflamm’
zieht die Nacht die Toten an.
Ihr Atem wachse, flüst’re mir
ins Ohr mit Flammenzunge – hier:
Zimmer 21F
Freitag, 31.10.
23 Uhr
PS: ssst!
Misstrauisch blickte ich um mich, um den Werfer auszumachen, aber alle waren auf die Tafel konzentriert. »Ist das von dir?«, flüsterte ich in Eleanors Richtung.
»Was meinst du bloß?«, formten ihre Lippen grinsend und sie hob ein identisch aussehendes rosa Papier hoch, auf dem anscheinend das Gleiche geschrieben stand. Sie legte einen Finger an ihre Lippen und beugte sich über ihren Block, um von der Tafel abzuschreiben.
Während Mr B. zum Thema Leichenverbrennung überging, wanderten meine Gedanken von Tod und Bestattungen zu der rätselhaften Botschaft und zu der
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