Dead Beautiful - Deine Seele in mir
Fenster hinaus und zu Mittag aß er jeden Tag irgendein seltsames Sandwich, das ihn nach Zwiebeln riechen ließ.
»Aber es geht nicht nur darum, wie er aussieht«, sagte Eleanor und leckte die Haferflocken vom Löffel. »Es geht darum, was er sagt. Er ist genial.«
Ich verdrehte die Augen. Wir saßen im Speisesaal beim Frühstück und bald würde der Unterricht losgehen.
»Das, was er letzte Woche gesagt hat, zum Beispiel. Was war das noch mal?«
Ich zuckte die Schultern und spielte mit der Brotrinde auf meinem Teller.
»Ach ja, jetzt weiß ich«, rief Eleanor aus. »Er hat gesagt›Die Wahrheit ist oft zu sehen, aber selten zu hören‹. Ist das nicht so was von wahr?«
Vor ein paar Monaten hätte ich ihr noch zugestimmt, aber jetzt war ich mir nicht mehr sicher. Nichts, was ich im letzten Monat gesehen hatte, war mir sonderlich wahr vorgekommen. Wie waren meine Eltern gestorben? Wie Benjamin? Langsam zweifelte ich daran, dass es überhaupt eine Wahrheit gab. »Wie ironisch, dass er es laut gesagt hat«, murmelte ich.
»Du bist nur schlecht gelaunt wegen deiner Lateinarbeit.«
Da hatte sie nicht völlig unrecht. Ich hatte eine Drei auf die Arbeit bekommen, was natürlich Absicht gewesen war, doch das würde ich Eleanor bestimmt nicht auf die Nase binden. Von Latein ganz abgesehen, war ich immer noch davon überzeugt, dass das meiste, was Professor Bliss uns beibrachte, frei erfunden war. »Na gut, aber weißt du noch, wie er uns erzählt hat, dass Napoleon eigentlich nur ein kleiner Junge war? Oder seine Theorie, dass es wirklich Geister gibt?«
»Er ist einfach ein spiritueller Mensch«, sagte Eleanor. »Und woher willst du wissen, wer Napoleon wirklich war? Dich hat’s damals auch noch nicht gegeben.«
Ich seufzte. Zum Glück war es Zeit für den Unterricht. Und zu Eleanors Glück hatten wir Geschichte.
Professor Lesley Bliss war Ende dreißig. »Nennt mich Mr B.«, hatte er sich in der ersten Stunde vorgestellt. Zu meiner Überraschung handelte es sich um denselben Lehrer, in dessen Latein-Aufbaukurs ich mich an meinem ersten Schultag verirrt hatte. Deshalb hatte ich angenommen, er müsse genauso frostig und grüblerisch sein wie dieSchüler, die er unterrichtete – dabei war er das genaue Gegenteil.
Er war wie ein erwachsener Junge, mit einem vertrottelten Lächeln und wallendem Haar, das ihm beim Reden vor dem Gesicht baumelte. Er trug immer seine Outdoor-Klamotten zum Unterricht – Zip-off-Hosen und aufgekrempelte Kakihemden, in denen er aussah, als käme er frisch von irgendeiner exotischen Ausgrabungsstätte.
»Bestattungen«, hob er an und schritt zur Tafel, auf die er mehrere Kreideskizzen malte. Die erste zeigte eine Pyramide, die zweite einen Scheiterhaufen, die dritte einen Sarg – genau wie den, den ich im Latein-Aufbaukurs an der Tafel gesehen hatte.
»Warum beerdigen wir unsere Toten?« Seine Nase hatte an der Wurzel eine Delle wie bei der Sphinx; ich konnte mir nur vorstellen, dass er mal bei einer archäologischen Grabung eine Schaufel abbekommen haben musste.
Ich dachte an meine Eltern. In ihrem Testament hatten sie verfügt, dass sie nebeneinander auf einem winzigen Friedhof bestattet werden wollten, ein paar Meilen von unserem Haus entfernt. »Aus Respekt?«
Er schüttelte den Kopf. »Respektvoll ist es schon, aber das ist nicht der Grund, warum man es tut.«
Aber warum sollte man einen Menschen dann bestatten? Ich starrte ihn irritiert an und meldete mich noch mal, entschlossen, die richtige Antwort zu geben. »Weil es unhygienisch ist, einen Leichnam draußen rumliegen zu lassen.«
Mr B. schüttelte den Kopf und kratzte sich die Nackenstoppeln.
Ärgerlich über seine Ignoranz und sicher, dass meine Antworten richtig waren, warf ich ihm einen erbosten Blick zu. »Weil es die beste Art ist, eine Leiche loszuwerden?«
Mr B. lachte. »Aber das stimmt doch gar nicht! Denken Sie doch nur an die vielen kreativen Methoden, die sich Massenmörder schon ausgedacht haben, um Leichen verschwinden zu lassen. Jemanden einfach aufzuessen wäre doch sicher viel praktischer als das ganze Brimborium mit Sarg und Zeremonie und Grabstein.«
Eleanor verzog das Gesicht bei der unappetitlichen Vorstellung und beim Thema Massenmörder schien auch der Rest der Klasse aufzuwachen. Aber eine Antwort hatte noch immer niemand. Dass Mr B. ein Scharlatan war, hatte ich schon gehört, aber das hier war ja einfach nur unverschämt. Was gab ihm das Recht zu behaupten, ich wisse nicht, was Beerdigungen
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