Dead Beautiful - Deine Seele in mir
einem Buch auf dem Schoß vorzustellen, und meinen Vater, wie er mit einem Kreuzworträtsel dasaß und Toast aß. Aber ihre Bilder verblassten so schnell, wie sie gekommen waren. Hier in Genevieves Zimmer, umgeben von Kerzen und mir fast völlig fremden Mädchen, schienen meine Eltern so weit von mir entfernt, dass ich keine greifbare Erinnerung heraufbeschwören konnte. Es war, als ob sie in meinem Kopf keine wirklichen Menschen mehr waren, sondern nur noch die verschwommene Erinnerung an zwei Leute, die ich einmal im Traum gesehen hatte.
Ich öffnete die Augen und sah mich im Kreis um. Alle anderen hatten die Lider gesenkt und konzentrierten sich auf ihr Objekt. Ich schloss die Augen wieder und versuchte, mich zu konzentrieren, aber die Bilder meiner Eltern verdunkelten sich immer stärker, wurden überschattet von dem einen Menschen, den ich seit meiner Ankunft am Gottfried-Institut nicht aus dem Kopf bekommen hatte. Dante.
Ich sah ihn vor mir in der Bibliothek, wie er mich durch die Bücherregale hinter sich hergezogen hatte, wie seine Beine gegen meine gestreift waren, als wir atemlos imDunkeln gewartet hatten. Beim bloßen Gedanken wurde mir heiß. Wo steckte er jetzt? Wahrscheinlich in Attica Falls auf seinem Zimmer, wo er schlief oder vielleicht las. Ich fragte mich, ob er gerade auch an mich dachte.
Plötzlich fegte ein Windstoß durch die offenen Fenster, rasselte an den Rollläden und wehte die Zettel auf Genevieves Schreibtisch durcheinander. Die Kerzen flackerten auf.
Um uns herum setzte plötzlich ein Flüstern ein – leises Gemurmel erfüllte die Luft, obwohl keiner von uns sprach. Mein Körper handelte ohne mein Zutun und ich beugte mich hinüber zu Genevieve, als wollte ich ihr durch meine gewölbten Hände ein Geheimnis ins Ohr flüstern. Mein Mund bewegte sich gegen meinen Willen und merkwürdige Worte purzelten heraus. Sie waren mehr Geräusch als Wort – seltsame Laute, die schneller aus mir herausschossen, als ich sie verstehen konnte. Sogar meine Stimme war anders – sie war tiefer, die Tonlage wechselhaft und eigenwillig, als ob sie aus einem fremden Körper käme. Ich versuchte, die Stimme anzuhalten, mit dem Reden aufzuhören, aber ich war weder Herrin meiner Lippen noch meiner Zunge.
Eine nach der anderen beugten wir uns zu unserer linken Nachbarin hinüber und lehnten uns an ihr Ohr, als spielten wir stille Post.
Dann spürte ich ein Kitzeln in meinem Ohr. Bevor ich mich umdrehen und nachschauen konnte, begann mir eine Stimme zuzuflüstern. Es war Eleanor, und dann auch wieder nicht. Ihre Stimme war leise und tief und klang, als wäre sie die eines Mannes. Mein Vater. Der Schreck war sogroß, dass ich völlig vergaß, dass ich gleichzeitig Genevieve zuflüsterte. Alles, was ich tun wollte, war zuhören. Tausend Fragen drängten sich auf einmal in meinem Kopf. Ich konzentrierte mich auf die wichtigste.
Wie bist du gestorben?
Die Stimmen verebbten. Alles, was ich nun hörte, war Eleanors Atem, tief und rauchig. Und dann rollte plötzlich ein Geräusch von ihrer Zunge, das sich in ein weiteres verwandelte, aus dem sich dann das nächste entfaltete. Wie eine Flutwelle ergossen sich die Worte in mein Ohr. Es waren nur seltsame Laute, die sich in das Echo eines Orts verwandelten, eines Geruchs, eines Gefühls, eines Geschmacks, den ich einmal gekannt hatte.
Das Meer. Ich spürte die feuchte Luft. Ich roch den Regen, der auf den Asphalt klatschte und in Dampf aufging. Ich hörte das Kreischen der Möwen, die über dem Jachthafen kreisten, das Aufschlagen der Wellen am Strand und dann ein Platschen.
Vor meinem inneren Auge erschien das Bild eines Menschen, der im Wasser wild um sich schlug. Er befand sich im tieferen Teil des Jachthafens, hinter dem Ankerplatz. Etwas zog ihn hinab und er griff nach oben ins Leere, während die Wellen ihn unter Wasser drückten. Ich dachte, es sei mein Vater, aber ich konnte nicht verstehen, warum er ertrank und wo meine Mutter steckte. Doch so schnell, wie es gekommen war, verschwand das Bild wieder.
Meine Gedanken überschlugen sich. Wo bist du?
Plötzlich schoss mir ein Bild durch den Kopf. Es zeigte einen uralten Baum mit langen, hängenden Zweigen, der mir bekannt vorkam. Ich konzentrierte mich auf das Bildund versuchte, es einzuordnen. Vielleicht war es irgendwo in Kalifornien gewesen, im Redwood-Wald, oder im Garten eines Freundes. Zum ersten Mal seit Monaten dachte ich an all die Orte, die ich bewusst vergessen hatte, aber keiner passte zu
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