Dead Beautiful - Deine Seele in mir
wurde.
»Glaubst du, es gibt wirklich so einen Gottfried-Fluch, der an den Herzanfällen schuld ist?«, fragte ich Nathaniel. Wenn ja, warum sollte mich mein Großvater hierhin schicken?
Nathaniel schüttelte den Kopf. »Das war wahrscheinlich nur so eine Zeitungsstory. Und selbst wenn, in den letzten zwanzig Jahren ist nichts passiert. Jeder weiß, dass das Gottfried die sicherste Schule ist, die man sich vorstellen kann. Ich mein, wir sind umgeben von einer Vier-Meter-Mauer und es gibt mehr Vorschriften als beim Militär. Dein Großvater hatte schon recht: Flüche gibt’s nicht. Nur Wissenschaft. Und Menschen. Und Statistiken.«
Am Ende der Straße sammelten sich schon Schüler für den Heimmarsch. »Gehen wir«, sagte Nathaniel. Er stand auf und klopfte sich die Hose ab. Ich rührte mich nicht, sondern starrte weiter ins Buch, auf das Foto meines Großvaters.
»Kommst du?«
Ich zögerte. Ich wollte Nathaniel nicht erzählen, dass ich mich mit Dante traf. Ich wollte nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf uns lenken. »Ich brauch noch einen Moment … zum Nachdenken.«
»Ich wart auf dich.«
»Nein, geh ruhig vor, ich komm schon nach.«
»Es gibt keinen Fluch, Renée«, sagte Nathaniel und hob seine Sachen auf. »Das ist nur – das Leben.«
Die untergehende Sonne breitete sich zäh über den Horizont wie zerfließendes Eigelb. Mit dem Buch unterm Arm ging ich die Straße hinab bis zu Nummer 46. Das verfallene Gebäude sah aus wie ein Hotel aus dem 19. Jahrhundert. Dante lehnte wartend an einer Säule der Veranda.
»Du siehst besorgt aus.« Er nahm mir die Tasche ab.
»Nimm lieber das hier«, entgegnete ich und reichte ihm beim Hinsetzen das Buch. »Kapitel sieben.«
Als er den Artikel fertig gelesen hatte, sagte er lange Zeit nichts.
»Hast du das alles gewusst?«, drängte ich.
»Über den Gottfried-Fluch? Nein.«
Ich forschte in seinem Gesicht. »Du verschweigst mir etwas«, sagte ich, während mir der Wind das Haar ins Gesicht blies. »Du hast genau gewusst, dass was nicht stimmt mit Benjamins Tod, und du hast es nicht zugegeben. Hierist der Beweis. Meine Eltern und Benjamin und all diese anderen Leute, die am Gottfried an Herzversagen gestorben sind. Das ist doch alles das Gleiche!«
Dante nahm mich bei der Hand. »Komm mal mit.«
Das Innere von Attica Passing Nr. 46 war nur schwach von ein paar Wandleuchtern erhellt; ein geflickter roter Teppich wand sich das Treppenhaus hinauf.
»Wo sind wir hier?«, fragte ich, meine Hand auf dem Geländer.
»In einer Pension.«
Ich blickte auf die Nummernschilder an den Türen, dann auf Dante.
Die Treppe knarrte unter seinen Füßen. »Ich wohne hier.«
Wir stiegen hoch bis in den dritten Stock und bogen dann in einen Flur. Es war ein enger Gang mit verzogenen Dielen, von der Decke hingen funzelige Lampen, die den Flur in ein gelbes Dämmerlicht tauchten. Dantes Zimmer lag fast am Ende. Zu beiden Seiten waren Türen, aber es sah so aus, als sei hier jahrzehntelang niemand mehr abgestiegen. In seiner Tasche grub er nach einem Schlüssel.
In seinem Zimmer war es eiskalt. Durch die sperrangelweit geöffneten Fenster strömte die dünne Novemberluft. Er knipste eine kleine Schreibtischlampe an.
»Als ich Benjamin Gallow gefunden habe, war er schon seit Tagen tot«, sagte Dante. »Sein Gesicht wirkte, als wär er um zehn Jahre gealtert. Seine Krawatte steckte zusammengeknüllt in seinem Mund. Mehr weiß ich nicht.«
»Seine Krawatte steckte ihm im Mund?« Wie meine Eltern und der Mullstoff. Fast.
Dante nickte.
»Wie ein Knebel?«
Dante sagte nichts.
»Wer, glaubst du, hat das gemacht?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht er selbst. Die Leute machen seltsame Sachen, wenn sie sich fürchten.«
»Was hat ihm wohl so Angst gemacht?«
»Der Tod«, sagte er leise. »Ist das nicht das, was allen Angst macht?«
Ich schaute mich in seinem Zimmer um. Ohne die Kälte wäre es ziemlich gemütlich gewesen. Es war sauber, aber unordentlich, an den Wänden standen Regale, die voll waren mit Romanen, Schreibsachen und Nachschlagewerken. Auf einem Tisch beim Fenster stapelten sich Klaviernoten: Schubert, Rachmaninoff, Chopin, Satie und Dutzende andere, von denen ich noch nie gehört hatte.
Unter dem Fenster befand sich ein einfaches Bett, mit einem Kissen, aber ohne Laken oder Decken. Gegenüber stand ein Schreibtisch, darauf ein aufgeschlagenes Buch mit einem Bleistift im Falz. Daneben lagen eine Packung Salz, drei Zimtstangen und eine Handvoll Muscheln und Steine.
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