Dead - Ein Alex-Cross-Roman
Quadratmeter großen Hauses und versuchte die alte Frau wiederzubeleben. »Ist alles in Ordnung? Miriam? Mutter?«
»William?«, stöhnte sie, als sie in das Gesicht sah, das auf sie herunterstarrte. »Bist du das, William?«
»Aber wie sollte das denn möglich sein?«, sagte Kyle und legte die Stirn in tiefe Falten. »Kannst du nicht einmal, ein einziges Mal wenigstens, den Verstand benutzen, der dir geschenkt wurde, der dir geschenkt worden sein muss ? Dein Ehemann, mein Vater - William - ist schon seit Ewigkeiten tot. Ich war dabei und habe dir geholfen, den General zu beerdigen. Das war in Alexandria. Es war ein herrlicher Tag, weißt du noch? Strahlender Himmel, eine erfrischend kühle Brise, der Geruch nach verbranntem Laub hing in der Luft. Großer Gott, du wirst wirklich langsam alt. Und dann die vielen Blumen, die die Leute geschickt haben - um dir zu gratulieren, dass du diesen heuchlerischen Tyrannen und Drecksack endlich losgeworden bist.«
Plötzlich schlug Kyle beide Hände vors Gesicht. »Oh, mein
Gott. Meine Schuld! Das ist alles meine Schuld, Mutter. Die Maske! Diese Gesichtsprothesen sind so verdammt realistisch. Damit sehe ich wirklich genau so aus wie Vater, stimmt’s? Endlich entspreche ich dem Bild, das der alte Herr sich immer von mir gemacht hat.«
Seine Mutter begann zu schreien, und er ließ sie eine Zeitlang gewähren. Es war ja sowieso niemand da, der ihr Gebrüll hätte hören können. Sein Vater hatte ihr zu Lebzeiten nie eine Haushaltshilfe genehmigt, und sie hatte auch heute noch kein Personal. War das nicht typisch? Geld wie Heu und konnte es nicht ausgeben.
Er sah zu, wie die Mitleid erregende, alte Frau den Kopf nach allen Seiten schüttelte und verdrehte. Welche Ironie, dass ihr Gesicht viel maskenhafter aussah als seines, die Maske einer Familientragödie.
»Nein, ich bin es nur, Kyle. Ich bin wieder unterwegs. Natürlich wollte ich dich sehen, dich besuchen kommen. Aber der zweite Grund ist: Ich brauche Geld, Mutter. Ich bleibe nur noch ein paar Minütchen, aber du musst mir die Nummern für die Übersee-Konten geben.«
Nachdem Kyle seine Arbeit an dem Computer im alten Arbeitszimmer seines Vaters beendet hatte, fühlte er sich wie neu geboren. Er hatte beinahe vier Millionen auf sein Konto in Zürich überwiesen und war jetzt ein wohlhabender Mann. Aber was viel wichtiger war: Endlich fühlte er sich frei. Das war nicht automatisch so, nur weil man aus dem Gefängnis freikam. Manche Gefangene fühlten sich nie wieder frei, selbst dann nicht, wenn sie die Sonne wieder sehen konnten.
»Aber ich bin frei, endlich frei!«, rief er den hohen Dachbalken des Hauses in Colorado zu. »Und ich habe wichtige Dinge zu erledigen. Da sind so viele Versprechen einzulösen.«
48
Als er wieder nach unten kam, um sich von seiner Mutter zu verabschieden, steckte sein Gesicht nicht mehr unter der Gummimaske. Auf der Fahrt von Florence nach Aspen hatte er sie die meiste Zeit getragen, aber vermutlich war es unklug, das Schicksal allzu sehr herauszufordern. Dasselbe ließe sich auch von seinem Aufenthalt hier im Haus sagen - abgesehen davon, dass nur wenige Menschen überhaupt wussten, dass seine Mutter sich hier aufhielt. Außerdem brauchte er das Geld, brauchte es für seinen Plan, der all seine Alpträume Wirklichkeit werden lassen sollte.
Er schlich sich an Miriam heran, die er mit Händen und Füßen an den alten Lehnsessel seines Vaters im Wohnzimmer gefesselt hatte. Direkt vor dem knapp vier Meter hohen, offenen Kamin. O Gott, wie viele Erinnerungen waren hier versammelt - sein Vater, der General, der ihn anbrüllte, bis seine Adern zu platzen schienen, der so oft auf ihn einprügelte, dass er die Schläge längst nicht mehr zählen konnte. Und Miriam sagte nie ein Wort, tat so, als hätte sie von den Schlägen, den Beleidigungen, den jahrelangen Misshandlungen einfach nichts mitbekommen.
» Buuuh - Mami!«, sagte Kyle, nachdem er sich von hinten an das alte Mädchen herangepirscht hatte. Ob sie wohl noch wusste, wie er das als kleiner Junge mit höchstens fünf, sechs Jahren immer gemacht hatte? Buuuh - Mami! Ein kleines bisschen Aufmerksamkeit, bitte?
»Tja, jetzt bin ich mit meinen geschäftlichen Angelegenheiten hier in Colorado so gut wie fertig. Ich werde gesucht, weißt du, deshalb mache ich mich lieber wieder auf den Weg.
Ach du Schreck, du zitterst ja wie Espenlaub. Hör doch mal, Liebes, in diesem Haus, in dieser deiner persönlichen Festung, bist du doch absolut
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