Dead - Ein Alex-Cross-Roman
Paris, vermutlich seine absolute Lieblingsstadt. Auf jeden Fall unter den Top drei. Zusammen mit Rom und Amsterdam. Vielleicht noch London. Was er jetzt empfand, war vermutlich seine intensive Sehnsucht nach Freiheit, den Zwang, das Unerwartete zu tun, jeder seiner Launen zu folgen, und letztendlich wieder zu töten. Zu quälen. Seiner Wut neuen Ausdruck zu verleihen.
An den vergangenen Abenden hatte er in etlichen der besten Restaurants der Welt gespeist - dem Taillevent, dem Le Cinq im Hotel George V., gleich neben dem Prince de Galles, wo er abgestiegen war. Keines dieser Essen hatte ihn weniger als vierhundert Euro gekostet, also rund fünf große Scheine, aber das war ihm egal, wirklich vollkommen egal. Geld hatte er mehr als genug, und war es nicht genau das, was einen richtigen »Urlaub« ausmachte? Ein bisschen Abstand von der täglichen Arbeit, dem ständigen Gehetze, all diesen Morden. Sich Zeit nehmen, um nachzudenken, zu planen.
Das Prince de Galles war in jeder Hinsicht eine gute Wahl. Es lag in der sehenswerten Avenue George V., nur wenige Querstraßen von den Champs-Elysées entfernt. Es war in einem herrlichen Gebäude untergebracht - überwiegend Jugendstil, vergoldet -, und wunderschöne Kronleuchter hingen überall, wohin man sah. Besonders gut gefiel es ihm in der Regency Bar, die ganz im englischen Stil mit sehr viel Leder, dunklem Holz und Samt ausgestattet war. Elvis Presley
hatte einst im Prince de Galles gewohnt und jetzt Kyle Craig.
Die Vormittage hatte er mit Museumsbesuchen zugebracht. Das Musée d’Orsay und die Orangerie waren seine Favoriten - die Impressionisten. Vielleicht würde er heute auch noch in den Louvre gehen, aber nur, um die Mona Lisa zu sehen. Er hatte lange Spaziergänge an der Seine gemacht, dabei sehr viel nachgedacht und weitere Pläne geschmiedet.
Er hatte auch eine endgültige Entscheidung gefällt: Er würde nicht zulassen, dass DCPK sich Alex Cross als seine Trophäe schnappte. Nein, Alex Cross gehört ihm, genauso wie seine Familie - Nana, Jannie, Damon und der kleine Alex junior. So war es immer schon geplant. Jahrelang war er von diesem Gedanken besessen.
Und vielleicht, aber nur ganz vielleicht, würde er noch ein paar Körperflüssigkeiten verschütten, bevor er Paris hinter sich ließ. Das war seine Kunst, sie war genauso schön und genau so bedeutend wie alles, was die so genannten alten Meister geschaffen hatten. Er war ein neuer Meister, oder etwa nicht? Wie geschaffen für dieses barbarische Zeitalter. Genau passend für die Gegenwart. Niemand hatte diese Kunst je besser beherrscht, ganz bestimmt nicht DCPK.
Er entdeckte eine hübsche junge Frau in einer engen, grauen Bluse, einem schwarzen Rock und Schaftstiefeln. Ihr langes Haar besaß eine beinahe kastanienbraune Färbung. Sie fegte gerade den Bürgersteig vor einer kleinen Kunstgalerie. Hin und her, hin und her - sehr effektiv. Sie war viel zu attraktiv, um einen Besen zu schwingen.
Also blieb Kyle vor der Galerie stehen, ging hinein, und sie ließ ihm ein paar Minuten Zeit, um sich umzuschauen. So unabhängig - so französisch. Kein Wunder, dass er dieses Volk so bewunderte.
Schließlich stand sie neben ihm. »Soll ich Ihnen vielleicht ein bisschen helfen?«
Kyle lächelte, und seine Augen fingen an zu strahlen. Er antwortete auf Französisch. »Sind Sie etwa bei der Polizei? Meine Kleidung, meine Frisur - was genau hat mich verraten?«
»Nein, um ehrlich zu sein, es waren Ihre Schuhe«, sagte sie.
Er lachte. »Das sagen Sie doch nur, damit ich Sie für pervers halte.«
Jetzt lachte sie auch: »Oder für humorvoll, vielleicht?«
»Das ist nicht witzig«, sagte er dann. War es auch nicht. Er ließ sich über eine Stunde Zeit, um sie zu töten. Dann benutzte er ihren Besen - nicht so, wie er sonst benutzt wurde, nicht zum Fegen. Sondern mit dem Stiel voraus.
Anschließend genehmigte er sich ein fabelhaftes Abschiedsessen im L’Atelier de Joël Robuchon.
Ahhh , Paris. Stadt der Wunder.
99
Die Verbindung nach Montana war ein großer Durchbruch in diesem Fall, mit etwas Glück vielleicht sogar der entscheidende. Schnell hatten wir mehr und mehr Informationen über Tyler Bell beisammen. Er war tatsächlich der Bruder des verblichenen Michael Bell und offensichtlich schwerer zu durchschauen als dieser. Während Michael ein kleines Rädchen im Hollywood-Getriebe geworden war, hatte Tyler sich als Flussführer und Mädchen für alles durchgeschlagen. Seine Unternehmenszentrale befand sich
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