Dead End: Thriller (German Edition)
Geisterschiffs, das gleich aus dem Nebel auftaucht.
60
Um drei Uhr, als die Sonne tief am Himmel stand, gingen Evi und der Hund, der bereits auf Schnuffel hörte, nach draußen. Im Schnee waren Spuren von Schnuffels vorigen Erkundungsfeldzügen zu sehen. Und zwei nicht eben wohlriechende Resultate früherer Rufe der Natur. Während Schnuffel herumtapste, die Nase unter die Büsche schob und sich gelegentlich hinhockte, um gelbe Pfützen im Schnee zu hinterlassen, ging Evi das Stück ab, wo ihrer Meinung nach der Gartenweg war.
Am unteren Ende des Gartens stand eine niedrige Ziegelmauer mit einem Eisentor darin, das zum Flussufer und zu einem winzigen Steg führte. Ein kleines Kanu war an einem Pfosten festgemacht und mit einer Persenning abgedeckt. Evi hatte vor, mit Kanufahren anzufangen, wenn es ihr besser ging. Ihre Arme waren genauso kräftig wie die aller anderen Menschen, und es gab keinen Grund, warum sie keine gute Kanutin abgeben sollte.
Falls es ihr jemals besser ging.
Den größten Teil der Nacht hatte sie unter der Bettdecke gekauert und darauf gewartet, dass die Schmerztabletten zu wirken begannen. Der Hund hatte sich zu ihr aufs Bett gelegt, und Evi hatte es nicht über sich gebracht, ihn hinunterzuschieben. Schnuffels Gegenwart tröstete sie irgendwie, obwohl es vor allem der Hund war, der Evi glauben ließ, dass Lauras erster Gedanke doch richtig gewesen sein könnte. Dass sie verrückt war.
Weil Schnuffel sich weder von der Musik noch von der Stimme hatte aus der Ruhe bringen lassen. Es konnte niemand im Haus gewesen sein, Musik angemacht und mit ihr gesprochen haben, weil der Hund ihn gehört, gespürt oder gewittert hätte. Die einzig andere Schlussfolgerung war, dass die Musik und die Stimme in Evis Kopf gewesen waren.
Ganz aufgekratzt wegen des Schnees, sprang Schnuffel jetzt mit großen Sätzen im Garten umher, buddelte mit den Vorderpfoten, schleuderte mit der Nase Schneebatzen in die Luft. Sie rannte zur Mauer hinunter, machte kehrt und wetzte den Garten wieder hinauf.
Ein paar Stunden vor dem Morgengrauen war Evi in einen erschöpften Halbschlaf gesunken, nur um gegen sieben Uhr geweckt zu werden, als Schnuffel vor die Tür musste. Laura war am Vormittag wie versprochen vorbeigekommen, um mit dem Hund laufen zu gehen. Sie waren eine Stunde weggeblieben und schweißtriefend und völlig erschöpft zurückgekommen.
Abgesehen von der trainingsbedingten Müdigkeit hatte Laura heute Vormittag sehr viel besser ausgesehen. Sie hatte gut geschlafen und glaubte, sie hätte es geschafft, die drohende Infektion, die sie sich eingefangen hatte, wieder loszuwerden. Ihr Schlaf war durch keinen einzigen Traum gestört worden.
Von ihrer eigenen Nacht hatte Evi nichts gesagt.
Nachdem Laura gegangen war, hatte Evi Jessicas Freundinnen im St. Catharine’s College angerufen, um zu sehen, ob sie von ihr gehört hätten. Sie hatten nichts gehört. Heute Abend um sechs, hatten sie gesagt, würde Jessicas Tutor die Polizei verständigen. Evi schickte dem Tutor eine kurze E-Mail, in der stand, dass Jessica ihrer Ansicht nach gefährdet sei und dringend gefunden werden musste.
Evi fällt.
Bevor sie nach draußen gegangen war, hatte sie sich ihren dicksten Mantel um die Schultern gezogen. Sie hatte sich einen Schal um den Hals gewickelt und trug Handschuhe. Nichts davon verhinderte, dass sie zitterte. Zweimal war sie jetzt durch einen Sturz beinahe ums Leben gekommen, einmal auf einem Berg in Österreich und einmal in einem neuen Haus in Lancashire. Manchmal träumte sie, sie würde fallen. In ihren Träumen schlug sie niemals auf dem Boden auf, aber in jenen wenigen Sekunden fühlte es sich stets so an, als sei dies genau so, wie es sein sollte. Dass Evi dazu bestimmt war, zu Tode zu stürzen.
Das konnte niemand im Internet in Erfahrung gebracht haben. Niemand hätte Evi Oliver googeln und herausfinden können, dass der Song, der die Macht hatte, ihr das Herz zu brechen, Bruce Springsteens »Dancing in the Dark« war. Niemand hätte erfahren können, dass Tannenzapfen ihr verhasst waren. Laura hatte sich geirrt. Das hier war niemand, der auf Rache aus war, oder jemand, der sie davon abhalten wollte, Unruhe zu stiften. Ihr kam allmählich der Zugriff auf die Realität abhanden. Sie wurde verrückt. So einfach war das.
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»Sie sind ja so still«, meinte Nick und schenkte mir Wein nach.
»Ich hab heute eine ganz neue Erfahrung gemacht«, erwiderte ich und brachte ein Lächeln zustande. »So was macht
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