Dead End: Thriller (German Edition)
das war die einzige Erklärung. Die Putzfrau, die am falschen Tag gekommen war, hatte ein Kind mitgebracht. Vielleicht ein Kind, das zu krank war, um zur Schule zu gehen, und auf das niemand anderes hatte aufpassen können. Es hatte im Haus gespielt, ein Spielzeug oben vergessen, die Tannenzapfen auf den Weg gelegt, einen ganzen Haufen davon auf dem Küchentisch liegen gelassen.
Evi durchsuchte die restlichen Räume im Obergeschoss, fand nichts und ließ sich von dem Lift wieder nach unten tragen. Sie ließ das Spielzeugskelett auf dem Tisch im Flur liegen und ging in die Küche. Ihr war klar, dass nicht einmal sie selbst an die Theorie von dem kranken Kind glaubte, und sie fragte sich, was in aller Welt sie unternehmen sollte.
Hätte sie sofort Licht gemacht, so hätte sie die schwarz gekleidete Gestalt höchstwahrscheinlich nicht gesehen, die auf den unteren Ästen der Zeder hockte und durch die vorhanglosen Küchenfenster hereinstarrte. Selbst in der dunklen Küche hätte sie den geduckten Schemen vielleicht nicht bemerkt, der so still war, dass er fast mit den Schatten verschmolz. Sie hätte nicht gewusst, dass er da war, wäre die Maske nicht gewesen.
Die Maske war ebenfalls schwarz, doch darauf waren mit fluoreszierender Farbe die Kontouren eines menschlichen Schädels abgebildet. Es war gerade hell genug, dass Evi den Knochenmann erkennen konnte, der keine zwei Meter von ihrem Küchenfenster entfernt war und sie beobachtete.
14
West Wales, vor 23 Jahren
»Humpty Dumpty fiel vom Stein.«
Der Junge schlakste die Treppe hinunter, kratzte sich am Kopf, unter dem Arm, am Hintern, so wie Halbwüchsige es eben tun, wenn sie gerade erst aufgestanden sind.
»Humpty Dumpty ging völlig entzwei.«
Seine zu langen Jeans schlappten auf den polierten Dielen des Flurs im Erdgeschoss. Die große Standuhr neben der Haustür verriet ihm, dass es irgendwas zwischen halb zwölf und zwanzig vor zwölf war. Genauer konnte man sich nicht auf sie verlassen. Vage erinnerte er sich, dass Mum irgendetwas von einer Besprechung auf dem Campus gesagt hatte. Dad war bestimmt in seinem Arbeitszimmer. Seine dreijährige Schwester war nach dem Geträller zu schließen irgendwo in der Nähe. Sie würde wieder mit ihm Elfe spielen wollen. Der letzte Schrei. Im Garten rumtanzen und unter den Bäumen Elfenhäuschen bauen.
»Humpty Dumpty fiel vom Stein.«
So ganz kam sie mit dem Lied noch nicht klar.
Der Junge blieb vor der Tür von Dads Arbeitszimmer stehen und schnupperte. Abgestandener Kaffee? Normal. Gut durchgebräunter Toast? Normal. Das Klo, das seine Schwester mal wieder zu spülen vergessen hatte? Normal. Schießpulver? Nein, nicht normal.
Vor einem Jahr, als er zwölf gewesen war, hatte sein Vater angefangen, ihn zum Schießen mitzunehmen, und seine Mutter hatte sich immer beschwert, dass sie den stechenden Korditgeruch ins Haus brächten. Das ist kein Kordit, hatte Dad sie belehrt, Kordit wird schon seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr verwendet. Das, wonach wir riechen, ist Schießpulver.
Doch Dad hatte seine Gewehre jetzt schon seit sechs Monaten nicht mehr benutzt. »Ich will nicht, dass dein Vater dich zum Schießen mitnimmt, bis es ihm besser geht«, hatte Mum gesagt. Und so waren die Gewehre in einem stabilen Schrank im Arbeitszimmer eingeschlossen worden, und der Junge hatte keine Ahnung, wo der Schlüssel aufbewahrt wurde. »Schusswaffen und Teenager vertragen sich nicht«, erklärte seine Mutter ihm regelmäßig.
»Und auch der König mit seinem Heer.«
Seine Schwester war im Arbeitszimmer. Der Junge drückte die Tür auf, trat ein und sah, was von seinem Vater übrig war.
15
Samstag, 12. Januar (vor zehn Tagen)
»Es ist zwei Uhr morgens, Flint.«
»Waren Sie beschäftigt?«
Ein unterdrücktes Gähnen. »Hab nur von Ihnen geträumt, wie üblich«, knurrte Joesbury.
Das ignorierte ich. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass sie vergewaltigt worden ist?«, wollte ich wissen.
»Gab keinerlei Beweise dafür. Sie werden hier nicht in einem Vergewaltigungsfall ermitteln, Flint, oder irgendeinen anderen Aspekt von Bryony Carters Selbstmordversuch untersuchen. Ihre Aufgabe wird es sein …«
»… das Studentenleben in Cambridge am eigene Leibe zu erleben. Rauszufinden, ob an Dr. Olivers Schwachsinnstheorie von wegen Subkultur irgendwas dran ist. Soll ich eigentlich auch irgendwas studieren?«
»Psychologie«, antwortete Joesbury. »Dr. Olivers Fachgebiet. Das macht es Ihnen beiden so leicht wie nur
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