Dead End: Thriller (German Edition)
sagte Evi. »Ich war Freitagabend total angespannt und hatte dann richtig Angst. Es hat sich angefühlt, als wäre jemand in meinen Kopf eingestiegen.«
»Ein Knochenmann«, überlegte Megan, die Stirn in Falten gelegt. »Aber nach dem, was du mir erzählt hast, waren die Knochenmänner doch mehr wie die Puppen in der Guy Fawkes Night. Mit einem Gerüst drin und mit alten Lumpen ausgestopft und richtig angezogen. Das waren doch keine Skelette. Bist du sicher, dass die Gestalt da in dem Baum ein Knochenmann sein sollte?«
Evi spürte, wie etwas von der Spannung in ihr nachließ. »Du hast recht«, sagte sie nach kurzem Zögern. »In diesem Dorf, von dem ich dir erzählt habe, da haben sich Leute als Skelette verkleidet, aber das waren nicht die Knochenmänner. Die Skelette haben die Knochenmänner zum Feuer getragen.«
Megans schmale, mit dunklem Stift nachgezogene Brauen verschwanden in den Locken ihres Ponys.
»Das war ein sonderbares Kaff«, meinte Evi.
»Erinnere mich bloß dran, dass ich da nicht hinfahre, wenn ich das nächste Mal wandern gehe.«
Einen Moment lang sagte keine von ihnen etwas.
»Bis zur Narrenwoche kann es nicht mehr lange hin sein«, stellte Megan fest. »Verkleiden ist dann anscheinend mehr oder weniger Pflicht. Und Tannenzapfen gibt’s um diese Jahreszeit haufenweise.«
»Stimmt«, erwiderte Evi. »Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass jemand in meinem Haus war.«
»Du meinst die Tannenzapfen auf dem Tisch? Was hat denn die Polizei dazu gesagt?«
»Besonders bedrohlich fanden sie’s nicht«, antwortete Evi. »Aber sie haben mir geraten, die Türschlösser auswechseln zu lassen. Was ich auch getan habe. Die Gebäudewartung der Uni hat das gestern erledigt.«
Die beiden Frauen schwiegen einen Moment lang, während Megan ihre knallroten Fingernägel betrachtete und Evi zusah, wie ein trockenes Blatt von einem Rosenstrauch abfiel.
»Denkst du viel an Harry?«, erkundigte sich Megan.
Als würde sie je aufhören, an Harry zu denken. Er war immer da, in ihrem Kopf. Das hieß noch lange nicht, dass sie über ihn reden wollte. Und der Pedell würde bald die Gartentore abschließen.
»Machst du dir immer noch Gedanken wegen der Selbstmorde?«, fragte Megan. »Hast du noch mal mit der Kriminalpolizei gesprochen?«
Evi merkte, wie sie den Blick zum Boden senkte. Sie konnte Megan nichts von den verdeckten Ermittlungen erzählen, die sie angeleiert hatte. Von der jungen Frau, die sie in ihre Fakultät eingeschleust hatte. Jetzt hatte sie also Geheimnisse vor ihrer Therapeutin. Sie schüttelte den Kopf.
»Die denken, es ist genau das«, sagte sie. »Selbstmord. Es gibt keinerlei Beweise für irgendwelchen Zwang oder dafür, dass noch jemand beteiligt war. Sie haben mir mit allem Respekt nahegelegt, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren und es ihnen zu überlassen, in Cambridge für Ordnung zu sorgen.«
»Na ja, wir haben ja wohl auch keinerlei Hemmungen, der Polizei zu sagen, wie sie ihren Job machen soll, wenn wir es für richtig halten«, bemerkte Megan lächelnd. Dann verblasste das Lächeln. »Gab’s da nicht mal eine Selbstmordserie, als wir hier studiert haben?«, fragte sie nach kurzem Überlegen. »Oder war das vor deiner Zeit?«
Evi dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. »Laut dem, was man mir erzählt hat, war die Suizidrate hier bis vor fünf Jahren vollkommen normal.« Wieder schaute sie auf die Uhr. »Unsere Zeit ist um«, meinte sie. »Weißt du, ob Nick heute Nachmittag da ist?«
»Ich glaube, er ist ins Krankenhaus gerufen worden. Soll ich ihm etwas ausrichten?«
»Ist schon okay, ich rufe ihn zu Hause an.«
Die beiden Frauen verließen den Garten und gingen das kurze Stück die Straße hinunter bis zu der Arztpraxis, wo Megan zwei Tage in der Woche arbeitete.
Als sie um die Ecke bogen, sah Evi, dass ein teurer japanischer Wagen ihr Auto zugeparkt hatte. Als er sie erblickte, stieg der Fahrer aus, ein Mann, von dem sie genau wusste, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte. Er war groß, Ende dreißig, mit kurzem Haar, eckigem Kinn und muskulösem Körperbau; sein Anzug sah teuer aus und saß gut. Evi sah, wie sich seine dunklen Augen auf Megan hefteten, die gleich hinter ihr war. Während ein gemächliches, selbstsicheres Lächeln seine Züge weicher erscheinen ließ, drehte sie sich um und sah, wie Megan zurücklächelte.
»Hey«, sagte er zu Megan, und sein linkes Auge deutete ein ganz leises Zwinkern an, ehe er sich wieder Evi zuwandte.
Weitere Kostenlose Bücher