Dead End: Thriller (German Edition)
nächsten war, baumelte ein kleines rechteckiges Stück weißes Plastik und ein Filzstift.
»Bryony«, fragte ich sie, »kannst du schreiben?«
Ein kurzes, heftiges Kopfnicken antwortete mir. Ich zog einen Handschuh aus einer Schachtel neben dem Bett und schob ihr, so behutsam ich konnte, den Stift zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann hielt ich die Plastiktafel vor ihre Hand.
Den Stift zu halten und zu bewegen kostete sie enorme Mühe, das merkte ich daran, wie sie die Augen zusammenkniff, und auch an den kleinen Keuchlauten, die aus ihrer Kehle drangen. Hoffnungsvoll und gleichzeitig schuldbewusst sah ich zu, wie sie einen Buchstaben malte.
B
Es dauerte lange, doch endlich fiel ihre Hand wieder aufs Bett, und auf der Tafel standen zwei Worte.
BEOBACHTEN MICH
Bewegung vor der Tür. Der Türknauf begann sich zu drehen und hielt wieder an. Schritte entfernten sich. Ich schaute wieder hinunter und sah, dass Bryony noch etwas geschrieben hatte.
ANGST
»Wovor hast du Angst?«, fragte ich mit einer Stimme, von der ich nicht sicher war, ob sie sie hätte hören können. Dann beugte ich mich vor, um das letzte Wort zu entziffern, das sie gekrakelt hatte. Ihre Hand fiel auf die Bettdecke. Sie hatte BELL geschrieben.
Bell? Glocke? Was denn für eine Glocke? Wieso in aller Welt sollte eine Glocke ihr Angst machen? Ich musste mir ein Dutzend Fragen verbeißen. Bryony hatte genug. Sogar ich konnte das sehen. Ich zwang mich, sie anzulächeln, machte einen Schritt auf die Tür zu und musste plötzlich daran denken, wie ich das letzte Mal in diesem Zimmer gewesen war.
Damals war hier jemand mit dem Namen Bell gewesen. Nick Bell. Und er hatte sie beobachtet.
44
Traurig. Hoffnungslos. Verzweifelt. Das waren die Worte, die man von einer jungen Frau erwarten würde, die einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Nicht Beobachten mich. Nicht Angst. Was war in Bryonys Leben vorgegangen, das sie zu einem derart drastischen Schritt veranlasst hatte? Wenn sie nicht entweder unter Wahnvorstellungen litt oder sich das Ganze bloß ausdachte, um Aufmerksamkeit zu erregen, dann lief das hier in einer völlig anderen Liga ab. Und wie passte Bell da hinein?
Während des ganzen Wegs zurück zu meinem Zimmer sehnte ich mich verzweifelt danach, mit jemandem reden zu können. Ich hatte mich immer für eine Einzelgängerin gehalten, der es nicht lag, sich mitzuteilen. Wie sehr hatte ich mich geirrt. Bei der Polizei gab es immer jemanden, dem man Bericht erstatten musste, mit dem man Ideen austauschen konnte. Zum ersten Mal seit Jahren war in meinem Kopf zu viel los und niemand da, an den ich mich wenden konnte.
Bell musste nicht unbedingt Nick Bell heißen. Es war kein häufiger Name, aber trotzdem würde ich diese ganz spezielle Katze jetzt noch nicht aus dem Sack lassen. Es musste doch noch andere Bells in Cambridge geben. Ich klappte meinen Laptop auf und fing an, die Internetseiten der Universität nach jemand anderem abzusuchen, der Bell hieß. Zuerst ging ich die Listen der Studenten durch, dann die der Doktoranden, der Dozenten, Fellows, Professoren und Angestellten. In einem Kollektiv aus über zwanzigtausend Menschen fand ich drei Bells, zwei davon waren Frauen. Der Dritte war ein Mann namens Harold, dessen kurze biografische Angaben mir verrieten, dass er schon seit einiger Zeit im Ruhestand war.
Jemand aus der Stadt vielleicht. Jemand in einer Bar, in einem Restaurant, einer Buchhandlung? Talaith könnte mir wahrscheinlich sagen, wo Bryony sich gern aufgehalten hatte.
Und, ja, ich wusste genau, was ich da tat. Ich wollte nicht, dass Nick Bell etwas mit dem zu tun hatte, was hier vorging. Ich hatte ihn sympathisch gefunden.
Nachdem ich mit dem Wort Bell eine völlige Niete gezogen hatte, wandte ich mich meiner anderen selbst gestellten Aufgabe zu. Die Namen der Frauen herauszufinden, von denen Evi mir heute Mittag erzählt hatte. Die Selbstmörderinnen, die geglaubt hatten, sie wären vergewaltigt worden.
Vor drei Jahren hatten fünf junge Frauen und ein junger Mann sich das Leben genommen; damit war das in puncto Studentenselbstmorde eins der schlimmsten Jahre überhaupt gewesen. Ich verbrachte einige Zeit damit, die Universitätszeitungen und die eher auf Cambridge ausgerichteten Tageszeitungen zu durchstöbern und fand schließlich sechs Namen. Doch ohne Joesburys Hilfe gab es keine Möglichkeit herauszufinden, wen Evi gemeint hatte.
Das Jahr davor war eine noch härtere Nuss, mit sieben Studentensuiziden. Ich konnte
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