Dead End: Thriller (German Edition)
anhalten oder auch Wochen.«
»Nicole Holt war mehrere Tage verschwunden, bevor sie umgekommen ist«, erinnerte ich sie. »Als sie wieder aufgetaucht ist, war sie ziemlich durch den Wind, hatte keinerlei Erinnerung daran, wo sie gewesen war oder was sie gemacht hatte.«
Evi sah mich an. Als Bryony versucht hatte, sich umzubringen, hatte sie eine Kombination aus Drogen intus gehabt, die riesige Teile ihres Gedächtnisses hätte löschen können. Ein paar Wochen später hatte eine zweite junge Frau, die davor unter Gedächtnisverlust gelitten hatte, sich das Leben genommen.
»Wenn Nicole auch DMT im Blut hatte, dann kann das kein Zufall sein«, sagte ich. »Die Obduktion war doch diese Woche, nicht wahr?«
Evi nickte. »Am Dienstag, glaube ich. Nicole war verschwunden, sagen Sie?«
»Ich muss den Bericht sehen«, sagte ich. »Kommen Sie da ran?«
Evi schüttelte den Kopf. »Sie war nicht meine Patientin«, antwortete sie. »Wenn Nicole Drogen genommen oder große Mengen Alkohol im Körper gehabt hatte, dann kommt das alles bei der gerichtlichen Untersuchung zur Sprache. Bis dahin …«
Ich stieß schwer den Atem aus. Normalerweise wird eine solche Untersuchung anberaumt und dann sofort vertagt. Bis zur kompletten gerichtlichen Aufarbeitung konnte noch ein halbes Jahr vergehen. »Kennen Sie den hiesigen Gerichtsmediziner?«, fragte ich.
Evi machte eine Kopfbewegung, die sich weder als Ja noch als Nein deuten ließ. »Ich bin ihm mal begegnet«, sagte sie. »Bei einem offiziellen Abendessen hier am College. Wir haben uns eine Weile unterhalten.«
»Wie alt?«
Sie zuckte die Achseln. »Ende fünfzig.«
»Verheiratet?«
»Junggeselle, dachte ich damals. Was hat das …«
»Schwul oder hetero?«
»Hab ich nicht gefragt.«
»Ach, als ob Sie das nötig hätten. Schwul oder hetero?«
»Hetero«, antwortete Evi. »Flirtet auch recht gern, wenn Sie’s denn genau wissen müssen.«
»Besser geht’s nicht«, stellte ich fest. »Wir müssen mit ihm reden. Haben Sie seine Privatnummer?«
Evi hob die Hand. »Moment. Sie haben erzählt, da wäre ein Mädchen verschwunden. Haben Sie gesagt, ihr Name sei Jessica?«
Ich nickte. »Ja, warum?«
Anstatt zu antworten, griff sie nach dem Telefon auf ihrem Schreibtisch und wählte.
»Hallo«, sagte sie gleich darauf, »könnten Sie versuchen, mich zu Jessicas Calloways Zimmer durchzustellen?«
Wir warteten. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was ich gestern Abend auf diversen Websites über das Mädchen gelesen hatte, das verschwunden war.
»Hallo, könnte ich bitte Jessica sprechen?«, fragte Evi einen Moment später. »Hier ist Dr. Oliver.« Die Furche auf ihrer Stirn wurde tiefer. »Ich verstehe«, sagte sie. »Und mit ihrer Familie haben Sie überhaupt nicht gesprochen?«
Sie sah zu mir hoch. Zum ersten Mal fand ich, dass sie aussah, als habe sie Angst. »Okay, danke.« Sie legte auf.
»Jessica Calloway«, sagt sie. »Sie kommt jetzt seit ein paar Monaten zu mir. Sie hatte früher schon mit Depressionen und Essstörungen zu tun. Dienstag habe ich sie gesehen und war ernsthaft besorgt; ich habe allmählich erwogen, sie in eine Klinik einzuweisen. Jetzt ist sie seit diesem Abend nicht mehr gesehen worden. Ich muss mit den Leuten in ihrem Wohnheim reden, mit ihrem Tutor.«
»Das mache ich«, sagte ich. »Sie gehen mit dem Gerichtsmediziner essen.«
55
Von Evis Haus bis zum St. Catharine’s College war es nicht weit. Als ich die bunt gestreiften Markisen des Marktes erreichte, stieg ich ab und schob das Fahrrad zwischen den Ständen hindurch. Inzwischen war der frühmorgendliche Sonnenschein fast verschwunden, und der Himmel hatte sich zugezogen. Er sah gelblich und schwer aus, als sei Schnee nicht weit. Ich schlängelte mich durch die Marktbesucher, vorbei an Ständen mit Brot, Blumen, Obst und Gemüse, und wohin ich mich auch wandte, überall machten die Leute, dass sie nach Hause kamen, bevor es anfing zu schneien. Ich gab wieder Gas und hatte bald das College erreicht.
Langsam stieg ich in den dritten Stock hinauf und betete, dass ich mir nicht irgendetwas Ernstes eingefangen hatte. Das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war, tagelang im Bett zu liegen. Oben blieb ich stehen, um wieder zu Atem zu kommen, dann suchte ich Jessicas Zimmer.
Von ihrem Fenster aus müsste sie den Main Court sehen können. Ich klopfte an und wartete. Als ich das Rauschen einer Toilettenspülung hörte, drehte ich mich um und sah eine andere junge Frau aus der
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