Dead Man's Song
Foster hatte am Abend ein Interview gegeben. Wir schauten es uns im Fernsehen an.«
»Wer ist Reverend Foster?«
»Gabriel Foster. Der heute morgen überall in der Stadt Protestveranstaltungen organisiert hat. Kennen Sie Gabriel Foster nicht? Ich sollte jetzt eigentlich in Majesta sein.«
»Sie haben vor dem Fernseher gesessen…«
»Ja.«
»Und was geschah dann?«
»Ich erinnere mich nicht.«
»Aber Sie sagen, Sie wurden vergewaltigt.«
»Ja.«
»Wenn Sie sich an nichts erinnern können…«
»Da war Blut«, sagte Lorraine. »Als ich heute morgen aufwachte. In meinem Bett. Auf dem Laken. Und ich bin erst in zwei Wochen fällig«, sagte sie. »Das war nicht meine Periode. Es war aber auch nicht sehr viel Blut. Jemand hat mich vergewaltigt.«
»Lorraine…«
»Ich bin Jungfrau«, sagte sie. »Ich wurde vergewaltigt.«
Eine Ärztin im Morehouse General untersuchte Lorraine und entdeckte ein vor kurzem perforiertes Hymen und zahlreiche Verletzungen im Genitalbereich, die auf ein gewaltsames Eindringen schließen ließen. Eine Krankenschwester fertigte zwei vaginale Abstriche an und sammelte Proben von Haaren, die sie aus Lorraines Schambereich aufsammelte, schnitt Vergleichsproben von Lorraines eigenem Schamhaar ab und führte dann einen Azidphosphatase-Test in Lorraines Genitalbereich durch. Die augenblicklich einsetzende Rotfärbung deutete auf das Vorhandensein von Samenflüssigkeit hin. Sie befanden sich noch innerhalb des zweiundsiebzigstündigen Testzeitraums für Rohypnol: Man fand in ihrer Urinprobe das Metabolit, das einen Kontakt mit Flunitrazepam bewies.
Annie Rawles machte sich selbst auf den Weg, um die Verhaftung vorzunehmen.
Annie identifizierte ihn auf Anhieb unter den ungefähr vierzig Männern und Frauen, die in der bitteren Kälte vor dem Fünften Revier auf und ab marschierten. Wie alle anderen trug auch er ein Schild mit der Aufschrift Wahrheit und Gerechtigkeit. Wie alle anderen rief auch er die Worte immer und immer wieder. Aber er war der einzige Weiße in der Gruppe. Lorraine Riddock hatte Lloyd Burton als einen verklemmt und leicht trottelig wirkenden Typen mit Brille beschrieben, etwa einsfünfundsiebzig groß, mit braunem Haar, braunen Augen und einem Pickelgesicht. Er entsprach genau dem Bild.
Annie schob sich neben ihn und fiel in den gleichen Schritt.
»Mr. Burton?« fragte sie.
Er wandte sich erschrocken um.
»Ja?« sagte er.
»Lloyd Burton?«
»Ja?«
Ihr Atem füllte die vor Kälte klirrende Luft vor ihnen.
»Sie sind verhaftet, Sir«, sagte sie.
Eine schwarze Frau, die hinter ihnen marschierte, meinte: »Wenn Sie ihn verhaften, können Sie mich auch gleich mitnehmen.«
»Nicht, wenn Sie keine Vergewaltigung begangen haben«, sagte Annie, holte ein Paar Handschellen aus ihrer Schultertasche und begann, die Miranda-Formel aufzusagen.
Sie verhörte ihn im selben Raum, in dem Lorraine Riddock ihn drei Stunden zuvor beschrieben hatte. Er hatte eine irgendwie quäkende, hohe Stimme, die in dem kleinen, fensterlosen Raum unangenehm widerhallte. Im angrenzenden Zimmer beobachtete Lieutenant Albert Genetti, Annies direkter Vorgesetzter im Team für Sexualdelikte, den Verlauf der Befragung und hörte aufmerksam zu.
»Wo waren Sie gestern abend um elf Uhr?« wollte sie von Burton wissen.
»Zu Hause vor dem Fernseher«, antwortete er.
»Wo ist zu Hause?«
»637 South Third.«
»War jemand bei Ihnen?«
»Nein. Ich lebe allein.«
»Sie sind sicher, daß Sie nicht in der Talbot Ecke 28th waren?«
»Ganz sicher.«
»1271 Talbot?«
»Nein.«
»Apartment 3-D?«
»Kenne ich nicht.«
»Und zusammen mit einem Mädchen namens Lorraine Riddock ferngesehen haben?«
»Nein, das habe ich nicht. Ich war allein zu Hause.«
»Sie kennen Lorraine, nicht wahr?«
»Ja, sicher. Aber ich war gestern abend nicht bei ihr.«
»Aber Sie waren mit ihr in der First Baptist Church, nicht wahr?«
»Ja, aber nicht so spät. Nicht um elf Uhr, wie Sie gefragt haben.«
»Sie waren bei Gabriel Fosters Pressekonferenz, oder?«
»Ja, da war ich.«
»Das beweist das Fernsehvideo.«
»Ich weiß. Ich hab’s gesehen.«
»Lorraine stand direkt neben Ihnen. Auf dem Band.«
»Ich weiß.«
»Wo haben Sie es gesehen? Das Video, meine ich.«
»In den Nachrichten an diesem Abend. Zu Hause.«
»Haben Sie Lorraine nach der Pressekonferenz nicht nach Hause gebracht?«
»Doch, das habe ich.«
»Sind Sie nicht gestern abend um kurz vor elf mit ihr in ihre Wohnung
Weitere Kostenlose Bücher