DEAD SEA - Meer der Angst (German Edition)
konnte.
George Ryan saß nicht bei den anderen Männern im Rettungsboot, und das musste er auch nicht, denn er hatte dieses andere gespürt, und zwar mehr als einmal. Er konnte es im Funkäther spüren, verborgen im Rauschen, so wie sich ein Wespennest im Stumpf einer vom Blitz getroffenen Eiche versteckte. Es benutzte das Rauschen als Tarnung oder war sogar das Rauschen selbst. Beides und nichts von beidem zugleich.
Am besten, man redete sich ein, dass man paranoid war und sich nur irgendwelche seelenfressenden Gespenster im alles verhüllenden Nebel einbildete. Unter den gegebenen Umständen nur natürlich. Denn so verhielt sich der menschliche Geist nun mal: Wenn er keine Antworten bekam, machte er sich selbst welche.
Er füllte die Lücken, damit beim Versuch, das Unbeantwortbare zu beantworten, keine Schaltkreise und Relais durchbrannten. Es gab aller Voraussicht nach gar keine körperlose Intelligenz da draußen, keinen übel gesinnten Puppenspieler, der die Fäden zog. Nur die Natur. Roh, raubgierig und fremdartig. Das konnte durchaus sein, sagte sich George. Aber das befriedigte nicht diese überaus menschliche Art von Logik, nämlich dass es immer jemanden geben musste, der hinter allem steckte, wenn nicht Gott, dann den Teufel, und wenn sie beide nichts damit zu tun hatten, dann etwas Abscheuliches und Namenloses, das auf der Evolutionsleiter derart weit über uns stand, dass es genauso gut ein Gott sein konnte.
Menschen brauchten höhere Mächte, um sich die Welt zu erklären.
Es mochte daran liegen, dass die menschliche Gesellschaft von Natur aus von Erfahrungen geleitet wurde und auf einer gesellschaftlichen Hackordnung basierte. Alles musste in Klassen und Stufen eingeteilt sein, wie in einer Nahrungspyramide. Und jede Nahrungspyramide hatte ein Raubtier an der Spitze – das Alphatier, den Chef, den Boss.
Und auch für diese entsetzliche Einöde aus Nebel und Albträumen musste das gelten. Der Mensch nahm die Position ganz oben definitiv nicht ein, es musste also etwas anderes sein. Denn die Vorstellung, dass ein Ort existierte, der ganz der chaotischen Herrschaft von Mutter Natur überlassen wurde – das ließ sich nicht akzeptieren.
Jedes Schiff hatte einen Steuermann, also musste es auch hier einen geben.
So war es doch, oder?
Oder?
Ja, George hatte darüber nachgedacht, hatte versucht, den Aberglauben mit den modernen Waffen der Vernunft und nüchternen Logik zurückzudrängen. Und er hatte eine recht gute Theorie entwickelt, um diesen hypothetischen Nebelteufel wegzuerklären. Denn er konnte nicht anders. Er hatte keine Wahl. Wenn man nicht eine Wand zwischen sich und dem Unerklärlichen errichtete – nun, dann hatte man ein Problem. Vor allem hier. George hatte es selbst erlebt, nachdem dieses unheimliche weiße Rauschen aufgebrandet war. Es hatte ihm schwer zugesetzt. So schwer, dass er sich in sich selbst zurückgezogen hatte, sich im Keller seines Selbst zusammenkauerte und versteckte – klein, still und unauffällig wie eine Maus, die einer Eule auf einem riesigen, nebligen Acker zu entkommen versucht. Und dort hatte er gewartet, ängstlich und hilflos, den Geruch nach dem Gummi des Floßes und der feuchten Kälte seiner Seele in der Nase. Aber seine Paranoia hatte ihn aufgespürt und ihm geflüstert, dass dieses ... dieses Etwas ihn überall finden konnte. Dass es auch dort in den Schatten seinen Atem hören und seinen Angstschweiß riechen konnte; dass es spürte, wie das Blut heiß durch seine Adern pulsierte und die elektrischen Impulse durch die Synapsen seines Gehirns zuckten.
Es hockte irgendwo da draußen und dachte an ihn. Es spürte ihn und wuchs in der sauren Galle seiner Furcht zu immer größerer Stärke an.
Und dann nahm George es und schickte es schlafen.
Er kletterte aus dem Keller heraus und füllte seine Lungenflügel mit der feuchten, modrigen Luft und redete sich ein, dass da nichts war, was er spüren konnte. So fiel es ihm leichter. Durch Ignoranz erlangte er Seelenfrieden, durch Selbstverleugnung Reinheit. Denn die einzige Alternative war der allmähliche geistige Verfall, eine tobende, alles verschlingende Paranoia, die seinen Geist zu Kleinholz und blanken Knochen zernagte.
Es war also tatsächlich nicht nötig, dass George mit den anderen im Rettungsboot saß. Er brauchte Cryceks Wahnsinn nicht, denn er hatte genug mit seinem eigenen zu tun, vielen Dank auch.
Mein Gott, fragte er sich, wie wird es erst nach zwei oder drei Tagen sein? Nach einer
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