DEAD SHOT
und ihre Schultern hoben und senkten sich. Schließlich lehnte sie sich bei Kyle an, während der Hubschrauber durch die Luft schwirrte. »Er war doch fast noch ein Kind. Erst sechzehn.«
Kyle schob die Frau nicht von sich und schwieg. Die Iranerin hatte soeben ein großes religiöses und kulturelles Tabu gebrochen, und Swanson wusste, dass sie eine Entscheidung in ihrem Leben getroffen hatte. Er wollte ihr nicht sagen, dass ihr Bruder vermutlich einer der sechs unglückseligen Insassen gewesen war, den die Marines tot und verbrannt in den Einzelzellen gefunden hatten. Stattdessen sagte er: »Versuchen Sie, sich zu entspannen. Wir sind gleich in Kuwait und sprechen dann weiter. Ihnen wird nichts geschehen.«
Travis Hughes beobachtete das Gespräch zwischen Swanson und der Frau genau. Erneut fiel ihm auf, dass dieser vielschichtige Mann zwei Gesichter hatte. Die Marines hatten erwartet, Shake würde der kaltherzige Anführer sein, der in den Schatten blieb und lieber zusah, wie diese iranischen Schurken das Mädchen vergewaltigen, als dass er seine Mission gefährdete. Für Kyle Swanson kam die Mission immer an erster Stelle.
Doch kein Plan verlief je reibungslos. Früher oder später musste man sich einer unvorhergesehenen Situation stellen. Und Swanson hatte eine spontane Entscheidung getroffen, die auf Faktoren beruhte, die Hughes erst jetzt in Ruhe analysierte. Es war nicht in erster Linie die drohende Vergewaltigung gewesen, die Kyle zum Handeln gezwungen hatte.
Hätten sie zugelassen, dass die iranischen Revolutionsgardisten die Frau töten, hätten die Schurken die Leichen ohnehin in das Gebäude geworfen und Kyles Truppe entdeckt. Und wenn die Gegner ausgebildete Soldaten waren, hätten sie zumindest kurz einen Blick in das Gebäude geworfen. Höchstwahrscheinlich wären die Marines sowieso entdeckt worden, und daher war die Mission bereits in Gefahr.
Das bedeutete, dass die Marines die iranischen Soldaten in jedem Fall hätten ausschalten müssen. Swanson hatte demnach beschlossen, schnell und hart vorzugehen, um zu verhindern, dass die Männer über Funk Meldung machen konnten. Da die Frau nicht zu den Soldaten gehörte, verfügte sie womöglich über wertvolle Informationen, aber nur, wenn sie überlebte. All diese Punkte hatte Kyle in Bruchteilen von Sekunden abgewogen, eine Entscheidung getroffen und die Rettungsaktion eingeleitet.
Es war kein heroischer Akt. Swanson hatte sich lediglich überlegt, dass dies der beste Weg sei, um die Mission zum Abschluss zu bringen und zusätzlich Informationen zu erhalten. Nun saß er dort drüben, sprach leise mit der Frau und ließ zu, dass sie sich an seiner Schulter ausheulte. Ganz so, als habe das Team von Anfang an nur diese Frau retten wollen.
Travis war beeindruckt. Er beugte sich zu Joe Tipp herüber und deutete auf Swanson. »Ich glaube, der alte Shake hat eine Freundin«, flüsterte er.
Als der Pave Low in Camp Doha am Hubschrauberlandeplatz des Hospitals zur Landung ansetzte, wurde er schon erwartet. Zwei Teams standen getrennt voneinander. Der Umstand, dass alle die gleiche Uniform trugen, bedeutete noch lange nicht, dass sie auch Freunde waren.
Die erste kleine Abteilung bestand aus medizinischem Personal, und noch ehe der Helikopter die Motoren ausstellte, eilten die Männer mit einer langen Trage zur Maschine. Sie legten Dawkins auf einen Rollwagen und liefen auf direktem Weg zum OP. Ein junger Triage-Arzt trottete neben den Sanis her und gab Anweisungen über ein Funkgerät durch. Swanson schaute auf seine Uhr. Dawkins war innerhalb der »Golden Hour« angekommen, und jetzt machten sich die Profis ans Werk.
Die zweite Gruppe hielt sich einen Moment zurück und kam dann zielgerichtet zum Hubschrauber. Vier grimmig dreinblickende bewaffnete Soldaten mit kugelsicheren Westen. Sie erreichten den Hubschrauber gerade, als das MARSOC-Team ausstieg und die Ausrüstung schulterte.
»Captain Newman?«, rief ein großer Mann. »Ich bin Lieutenant Zahn, Sir. Militärpolizei. Wir wurden geschickt, um die feindliche Kämpferin zum Verhör zu bringen.«
Rick Newman war überrascht. »Was?«
»Ihre Gefangene, Sir. Wir holen sie ab.«
Newman schaute Kyle Swanson an und zuckte unschlüssig die Schultern. Offenbar war bei dem kurzen Bericht, den er über Funk durchgegeben hatte, der Eindruck entstanden, das Team habe eine wertvolle Gefangene an Bord. Swanson wandte sich von den Soldaten ab, schüttelte aber leicht mit dem Kopf. Nein.
»Ich fürchte, da
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