DEAD SHOT
ließ das Handtuch fallen, drehte sich lange vor dem Spiegel von links nach rechts, betrachtete sich ausgiebig und suchte nach kleineren Verletzungen und Hautabschürfungen. Schließlich legte er sich ins Bett, wurde aber erneut von einer furchtbaren Panik erfasst und begann zu schwitzen. Wieder rannte er ins Bad, sprang unter die Dusche und musste immerzu an die Gefangenen denken, die in ihren engen Käfigen qualvoll an dem Gas krepiert waren. Jeden Juckreiz, den er verspürte, nahm er tausendfach verstärkt wahr. Die Angst, die ihm ständig im Nacken saß, wurde nur noch schlimmer durch die Gewissheit, dass er mitgeholfen hatte, das Monster zu erschaffen, das ihn jetzt zu verschlingen drohte. Angstgefühle waren neu für Juba, da ihn nie ein Gegner in Schrecken versetzt hatte. Doch dieser unsichtbare Mörder war anders: Er war gierig und scherte sich nicht darum, ob es nun die Richtigen oder die Falschen traf. Und er war nicht gehorsam gegenüber seinem Erschaffer.
Als er einige Stunden später wieder aus der Dusche kam, hatte er sich so weit beruhigt, dass er über den Concierge an der Rezeption neue Kleidung in einem nahe gelegenen Shopping Center bestellte. Später ging er zum Abendessen und hatte von seinem Platz aus einen herrlichen Blick auf den Arabischen Golf. Als er zu seiner Suite zurückkehrte, bestellte er eine Massage und lag dann zwischen frischen Laken, während der Masseur die verhärteten Muskelpartien bearbeitete, alle Verspannungen lockerte und die Schmerzen mit geübten Händen linderte. Danach machte Juba das Licht aus. Um sich von dem unsichtbaren Gas und den klebrigen Tropfen abzulenken, die den sicheren Tod bedeuteten, konzentrierte er sich auf Stationen in seinem Leben, die ihn bis in das Hotel geführt hatten.
In seiner Kindheit, als Juba noch Jeremy Mark Osmand geheißen hatte, war er in der Schule in England gehänselt worden, weil er ein Muslim und sein Vater kein Brite war. Doch die gehässigen Beleidigungen hörten auf, als Jeremy größer und kräftiger wurde und jeden angriff, der seine Familie schlechtmachte. Obwohl ihn die Mitschüler für seine sportlichen Leistungen beim Rugby oder Fußball bewunderten, glaubte Jeremy, dass sich in die Freundlichkeit der Klassenkameraden stets eine Spur von Geringschätzung mischte.
Im Sommer 1988 nahmen seine Eltern ihn nach Peschawar mit, in die nordwestliche Grenzprovinz in Pakistan, wo sein Vater als Arzt im Hospital des Roten Halbmonds arbeitete, während seine Mutter im Flüchtlingslager aushalf. Sie wohnten in einem von Eukalyptusbäumen umstandenen Haus auf dem Campus der Universität, und von dort aus erkundete Jeremy jeden Tag die boomende Stadt, die aufgrund der russischen Invasion im benachbarten Afghanistan aufblühte. In der Stadt wimmelte es von Spionen und Journalisten, russische Flugzeuge donnerten über die Häuser hinweg, Explosionen waren in der Ferne zu hören. Auf den Märkten der Schwarzhändler drängten sich Menschen und Tiere und Fahrzeuge aller Art. Mit Waffen und Munition beladene Maultiere wurden zur Grenze getrieben.
Der Krieg erweckte in dem Jungen einen islamischen Geist, und in den Moscheen und bei Versammlungen von jungen Leuten entdeckte Jeremy, dass London gar nicht das Zentrum des Universums darstellte!
Er lernte viel über den Propheten und die heiligen Stätten und war erstaunt, als er entdeckte, dass das mächtige Osmanische Reich kein alter Mythos war. Gegründet von dem ehrwürdigen Osman I. um 1300, hatte es bis 1924 bestanden. Jeremys Nachname ging auf jenen großen Kalifen zurück, und Jeremy fragte seinen Vater, warum er den Namen dem Englischen angeglichen habe. »Komm heute mit ins Krankenhaus«, meinte sein Vater eines Morgens, als sie starken schwarzen Kaffee tranken. »Dann wirst du eine Antwort erhalten. Einer meiner Kollegen möchte dich kennenlernen.«
Eine Stunde später saß Jeremy an einem kleinen Tisch im hinteren Bereich eines Kaffeehauses in der Nähe des Hospitals und war in ein Gespräch mit Dr. Aiman al-Zawahiri vertieft, dem muslimischen Aufwiegler, der nach der Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat verhaftet und gefoltert worden war. Al-Zawahiri war nach Peschawar gekommen, um den Freiheitskämpfern der Mudschahidin zu helfen, und Jeremy war fasziniert von dem Mann mit den großen Brillengläsern, der unnachgiebig für seine religiösen und politischen Ansichten eintrat.
Dann schloss sich jemand anders der Gruppe an, ein großer schlanker Mann, der sich einfach
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