DEAD SHOT
so lebendig waren, dass Kyle sogar beschreiben konnte, was Shari trug. Sie konnten zwar nicht miteinander sprechen, sich nicht berühren, aber für einen fast greifbaren Moment waren sie zusammen, nicht länger als einen Herzschlag, und immer lächelte sie so wundervoll. Jetzt drängte sich noch ein anderes Gesicht ungebeten in seine Gedanken: das Gesicht von Delara Tabrizi.
Hör auf , befahl er sich selbst. Das bringt dich nicht weiter. Konzentriere dich auf die Mission, dann regelt sich der Rest von allein. Gott, ich brauche Ruhe.
Green Light. Die Order kam direkt von oben. Da die Spezialisten unerwartet herausgefunden hatten, wo sich der Mann mit Namen Saladin aufhielt, musste schnell gehandelt werden, denn so eine Gelegenheit kam nicht wieder. Dieser Saladin war für den Gasanschlag in London verantwortlich und erpresste nun die ganze Welt. Der Auftrag hieß, Saladin zu beseitigen, um an die Formel und Pläne der tödlichen Waffe zu kommen. Der Präsident hatte recht, dass die Vereinigten Staaten keine Menschen umbrachten. Aber der Tote, der einst Kyle Swanson hieß, tat dies.
Es war dunkel und regnete, als Kyle das Fenster öffnete. Ein feiner Nieselregen ging nieder, der sich fast wie Nebel im Gesicht anfühlte. Da Kyle schon länger das Licht ausgeschaltet hatte, musste jeder denken, dass er längst schlief. Drei Stockwerke weiter unten zog sich eine Gasse an der Rückseite des Hotels entlang. Niemand zu sehen. Keine dunkle Schatten kauerten in den ebenso düsteren Ecken.
Kyle stopfte ein Hotelhandtuch in seine Jacke, stieg durch das Fenster auf den Sims, drehte sich zum Fenster und schloss es.
Die Echse hatte ihn mit Karten, Plänen und Gebäudegrundrissen ausgestattet. Das Hotelzimmer war ausgewählt worden, da an der Fassade ein Baugerüst stand. Auf Satellitenaufnahmen hatte die Echse gemessen, dass das Gerüst exakt elf Fuß von dem Fenster entfernt war. Vorsichtig schlich Kyle über den nassen Sims, kletterte dann behände an dem Gerüst nach unten und stand Sekunden später in der Gasse. Im Schatten eines Müllcontainers trocknete er sich mit dem Handtuch ab und warf es dann fort.
Er wandte sich von der Straße ab, drückte einen Knopf an seiner Armbanduhr, schirmte das Ziffernblatt mit der Hand ab und las die Uhrzeit in dem matten Schimmer. Es war fast auf die Sekunde genau 22 Uhr: noch zwei Stunden bis Mitternacht. Paris wartete auf ihn.
Swanson nahm abwechselnd Taxis und die Metro, fuhr mehrmals dieselbe Strecke zurück und schlenderte durch Läden, um zu prüfen, ob ihm jemand folgte. Erst als er sich davon überzeugt hatte, dass er allein war, begab er sich in nordöstlicher Richtung in das 19. Arrondissement.
Beim ersten Mal ließ er sich von dem Taxifahrer noch an dem Haus vorbeifahren und dirigierte den Wagen ziellos durch das Viertel. Vier Wohnblocks weiter stieg er an einem Restaurant aus dem Taxi, ging in das Lokal, bestellte ein Glas Rotwein und telefonierte über sein Handy.
Sybelle kam in den nächsten zwanzig Minuten und spielte den Part der Freundin. »Hi«, sagte sie und berührte seine Hand. Sie nahm an dem Tisch Platz, bestellte ebenfalls Wein, und Kyle erklärte, wie sie vorgehen mussten. Krieg in der Stadt ist die Spezialität eines Scharfschützen, da Fenster, Gebäude und Zäune geeignete Verstecke bieten. Kyle hatte nicht die Absicht, den bevorstehenden Kampf fair werden zu lassen. Sybelle und er könnten als Pärchen an dem Haus vorbeischlendern, ohne Verdacht zu erregen. Heimlich würden sie nach Möglichkeiten suchen, um das Spiel zu Kyles Gunsten zu drehen.
Swanson legte Geld auf den Tisch. Gemeinsam verließen sie das Lokal und quetschen sich unter Sybelles kleinen schwarzen Regenschirm. Sie näherten sich dem Haus von Norden und gingen langsam über den alten Gehweg. Kyle hatte den Arm um Sybelles Taille gelegt. Sie schmiegte sich enger an ihn und kicherte. Auf diese Weise erkundeten sie unauffällig die unmittelbare Umgebung des Grundstücks.
Saladin hatte für seine Sicherheit gesorgt. Zwei Wachposten standen im Innenhof, und an allen Ecken waren neue Kameras installiert worden, die nicht nur das Grundstück, sondern auch die angrenzenden Straßen im Blick hatten. Ein Mann wachte auf dem Dach. Auf dem Gehweg stolperte ihnen ein Clochard entgegen und trank aus seiner Flasche. Noch ein Wächter, kein Zweifel. Die Männer im Haus noch nicht mitgezählt. Womöglich gab es noch eine Alarmanlage. Fast zu viel Sicherheit , dachte Kyle. Als ob sie jemanden erwarten.
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