Deadline 24
hielt das kleine Teil in ihren Schein und kniff die Augen zusammen.
»Nur Gekrakel«, sagte sie enttäuscht. »Ich kann’s nicht entziffern.«
Mutter wollte etwas entgegnen, doch Großvater rief mit klagender, zittriger Stimme nach ihr. Sie seufzte resigniert, packte ihre Andenkenkiste weg und verließ das Zimmer. Sally saß allein vor der Lampe und starrte abwechselnd auf das Tüchlein und die kleine Scheibe in ihrer Hand. Was hatte es mit diesen Gegenständen auf sich? Warum waren sie Vater so wertvoll erschienen, dass er sie in seinem Stiefel versteckt hatte? Wurde sie allmählich verrückt oder bewegten sich die Schriftzeichen auf der Scheibe wirklich? Ihr blieb das Herz stehen. Die Zeichen veränderten sich. Sie ergaben ein Wort, das magische Wort. Deadline 24 stand da.
Kapitel 10
Sally taumelte, die Scheibe rutschte ihr aus den Fingern, und sie hatte Mühe, das winzige, fast unsichtbare Ding auf den Steinfliesen wiederzufinden. All ihren Mut musste sie zusammenraffen, um noch einmal unter der Lampe die Schriftzeichen anzusehen. Das magische Wort war verschwunden, nichts als Gekrakel umgab den goldenen Punkt. Sie hatte geträumt, bloß geträumt! Ihre Fantasie, ihr Verstand, ihre Gedanken waren durch die Aufregung der letzten Tage völlig durcheinandergeraten und hatten ihr einen Streich gespielt. Mit zittrigen Fingern schob sie das kleine Teil in seine Hülle, faltete das flüsternde Tüchlein dazu und verstaute beides in der Gesäßtasche ihrer Hose. Vielleicht würde sie noch herausfinden, wozu das alles diente. Immer noch war ihr schummrig vor Schreck, ihr Mund war staubtrocken, ihre Kehle ausgedörrt. Auf dem Nachttisch stand das Glas Tee, das Mutter beim Betreten des Zimmers dort abgestellt hatte. Sally setzte es an und trank es in gierigen Zügen wie eine Verdurstende.
Sie hatte gerade noch Zeit zu denken, dass das vielleicht ein Fehler gewesen war, bevor sie niedersank auf Mutters Bett, wo ein merkwürdiger Schlaf sie gefangen hielt, ein Traum von samtener Schwärze. Sie hatte keine Angst, trieb einfach durch das Schwarz wie ein Engel durch die Ewigkeit und lachte entzückt, als die Farben auftauchten. Ein Strom von leuchtenden, wunderschönen Farben trug sie zu einem Bogen aus Licht, wo jemand auf sie zu warten schien, ein Mann. Er kam Sally vertraut vor. Ungeduldig ruderte sie mit den Armen, schwebte näher – es war Vater! Er saß genau unter dem Bogen, auf einem alten Küchenstuhl und hielt die Hände vor sich, als läse er in einem Buch. »Es war das Verrückteste, was ich je gesehen habe«, sagte er, ohne aufzuschauen. »Diese kleinen Bilder …«
Klatsch! Sally stürzte ins Meer. Vater, die Farben, der Bogen aus Licht, alles weg wie ausgeknipst. »Nein!«, versuchte sie zu schreien, brachte jedoch nichts als verzweifeltes Gurgeln und Husten zustande. Wasser in ihrer Kehle, in ihrer Nase, sie ertrank! Menschen riefen ihren Namen, schüttelten sie, flehten sie an, endlich die Augen zu öffnen. Sie blinzelte durch Rinnsale ins grelle Licht der Lampe. Monnia stand über sie gebeugt, einen Krug in den Händen.
»Oh, Gott sei Dank, endlich wachst du auf!« Monnia schwenkte den Krug. »Tut mir leid mit dem Wasser. Aber wir wussten uns nicht anders zu helfen. Sie sind weg, Sally!«
»Wer?« Sally versuchte sich aufzusetzen, es gelang ihr nicht.
»Padrino, seine Männer, alle!«, jammerte Monnia. »Das Funkgerät hat wieder funktioniert«, berichtete sie atemlos weiter, »Fred Attala meldete sich. Sie haben die Helikopter-Crew gefangen. Auf der Attala-Farm! Padrino hat einen Freudentanz aufgeführt, wie er uns alles erzählt hat, und jetzt ist er dorthin unterwegs. Die anderen Lords auch. So sag doch endlich was!«
»Wasollichsagn?«
»Oh, du bist immer noch völlig hinüber! Warum hast du nur diesen blöden Tee getrunken?«
Ach so, ja, der Tee, jetzt fiel es ihr wieder ein. Teufelsgrastee. Sally Hayden machte keine halben Sachen, trank ein Glas, das Großvater schlückchenweise über den ganzen Tag verabreicht werden sollte, auf einen Zug leer. Also war alles nur ein Traum gewesen, ein trügerischer Drogentraum. Und doch, er war so real gewesen! Einen Moment länger nur, hätte Monnia nur noch eine Sekunde gewartet, ehe sie den Krug über ihr ausleerte, wüsste Sally jetzt, was Vater entdeckt hatte. Außerdem war es so schön gewesen, ihn zu sehen! Unsinn, schalt sie sich. Drogen lügen. Du solltest dir gratulieren, überhaupt noch am Leben zu sein. Heißt es nicht, dass man auf ein Tor aus
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