Deadline 24
Angelina gesagt hat, die Blätter zerkaut und sie auf die Wunde geschmiert. Das müsste helfen. Jetzt gibt’s noch was gegen deine Schmerzen. Mund auf, Zunge raus.«
Sally gehorchte. Monnia ließ einige Prisen schwarzen Pulvers auf Sallys Zunge rieseln und gab ihr Wasser zum Nachspülen.
»Ganz frisch, das Wasser«, sagte sie stolz. »Wir haben einen Teich mit einer Quelle gefunden und sogar Bananenstauden. Carlita ist noch beim Sammeln. Wenn sie kommt, gibt’s was zu futtern. Bist du hungrig?«
Sally versuchte ein Kopfschütteln.
»Warte nur, bis das Pulver wirkt, dann geht’s dir bestimmt wieder gut. Angelina hat gesagt, eine Prise sei ausreichend, aber ich habe dir mehr gegeben, du siehst gar zu elend aus. Fühlst du schon was?«
»Hm«, murmelte Sally. Das Pulver wirkte sehr schnell. Sie glaubte, genau verfolgen zu können, wie es mit dem Wasser ihren Körper durchströmte. Überall, wo es hingelangte, breitete es eine schwarze Decke aus, eine sanfte, schwarze Decke …
Und dann war nichts mehr, nur noch Schwarz. Sally schwamm darin, ließ sich treiben, endlos, willenlos, sorglos. Später kamen die Farben, wunderschön leuchtende Farben, die sie mit sich führten zu einem Tor aus Licht. Eine Gestalt saß unter dem Torbogen auf einem Stuhl, Vater! Er hielt die Hände vor sich, als läse er in einem Buch. Doch diesmal schaute er auf, als er Sally bemerkte. »Bei den Säulen habe ich es gefunden«, sagte er. »Es sprach zu mir, doch ich konnte nichts verstehen! Und was ich verstand, konnte ich nicht glauben! Jetzt weiß ich natürlich Bescheid.« Er lächelte. »Achte auf die Säulen! Was du dort finden wirst, existiert nicht mehr. Und doch ist es überall.« Das Tor entfernte sich. »Warte!«, schluchzte Sally verzweifelt. »Nimm mich mit!«
»Noch nicht!«, sagte Vater liebevoll. Er winkte zum Abschied, dann war er verschwunden. Das Tor auch. Die Farben waren ebenfalls verblichen. Nur die Schwärze blieb. Die hatte sich verändert, hatte einen feuchten, miefigen Modergeruch und einen Boden, hart und rau. Geräusche, zitternde Atemzüge, Stöhnen, dicht neben ihr. Sally war nicht länger allein, doch sie konnte nichts sehen, nichts! Sie wollte schreien, aber außer einem Krächzen brachte sie nichts heraus. Eine Hand tastete nach ihr, gleichzeitig ging das Licht an, und sie schaute in zwei verweinte Gesichter, die sich über sie beugten, voller Angst, aber auch voller Hoffnung.
»Lebst du?«, flüsterte Monnia.
Sally nickte schwach.
»Wir haben gedacht, du wärst gestorben!«, schluchzte Carlita. »Wir haben das Licht ausgemacht, weil wir es nicht ertragen konnten, dich tot zu sehen, und gerade da bist du aufgewacht.«
»Du hattest überhaupt keinen Puls mehr, o Gott!« Monnia stöhnte und ließ ihren Kopf auf Sallys Brust sinken. »Ich hab geglaubt, ich hätte dich umgebracht. Weil ich dir zu viel von dem Pulver gegeben habe.« Ihr wirres Haar kitzelte Sally in der Nase und sie musste niesen.
Carlita lachte gackernd wie ein Hühnchen, warf sich auf den Rücken und trampelte mit den Beinen. »Sie lebt wirklich! Tote niesen nicht.«
Monnia hob ihr tränenverschwollenes Gesicht. »Nicht so laut, sonst kreischen sie wieder!«
Wie um ihre Worte zu bestätigen, schrillten von irgendwo jaulende Töne, wie fernes Sirenengeheul, Unheil verkündend, grässlich. Gedämpfte Schläge waren zu hören, als ob jemand hämmerte oder gegen Mauern schlüge, und sofort brach das Geheul ab.
»Was war das? Wo sind wir hier?« Sally versuchte sich aufzurichten, doch gleich wurde ihr schwindelig und in ihrer Körpermitte hatte sie wieder dieses hohle Gefühl.
»Vorerst in Sicherheit«, erklärte Monnia, als es gelungen war, Sally in eine sitzende Position zu bringen. »Hast du Durst?«
Sally nickte und bekam Wasser.
»Hunger?« Carlita schwenkte eine kleine Banane.
Sally stöhnte und spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Carlita schälte die Frucht, was drei endlose Sekunden dauerte, während derer Sally vor Ungeduld fast geheult hätte, aber endlich durfte sie sich das süße Teil zwischen die Zähne schieben. Und danach noch eins. Und noch eins. Sechs Bananen aß sie hintereinanderweg und mit jeder kehrten ein paar ihrer Lebensgeister zurück.
»Nicht zu fassen«, staunte Monnia. »Dass eine gerade von den Toten Erwachte dermaßen was verdrücken kann! Es ist genau wie vorgestern, nachdem du den Teufelsgrastee getrunken hattest. – Natürlich!« Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Das ist
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