Deadwood - Stadt der Särge
deren Schein deshalb über den Staub und die Fassaden zuckte.
Auch in manchen Häusern brannten Lichter.
Grey Man gab sich wie ein König. Die Glocke läutete nicht mehr, nur die schleifenden Schritte der herbeikommenden Menschen waren zu hören. Im Halbkreis bauten sie sich vor ihrem Herrn und Meister auf, die Gesichter zu ihm angehoben.
Er sprach noch nicht und wartete so lange, bis alle Stimmen verstummt waren.
Natürlich hob er seine Arme an und breitete sie auch aus, bevor er sprach. »Getreue!« rief er mit lauter Stimme. »Meine Kinder, meine Freunde. Ihr habt mir vertraut und seid mir in die Wüste gefolgt, um ihr Leben zu entreißen. Wir haben die Stadt aufgebaut, wir haben nach Wasser gebohrt und es bekommen. Wir waren stark, wir waren mächtig und sind noch mächtiger geworden, aber nur, weil wir ihm alle gemeinsam folgten. Ich habe euch nie seinen Namen genannt, doch er hat mich geschickt. Ich bin sein Prophet.«
Ein falscher Prophet, dachte ich, und mir fiel ein, daß bereits in der Bibel vor den falschen Propheten gewarnt worden war. Diese Menschen hatten es nicht begriffen oder nicht begreifen wollen. Sie waren ihm gefolgt und hörten auch weiterhin seinen Worten ohne Widerspruch zu.
»In seinem Namen haben wir gearbeitet. Er gab mir die freie Hand, ich habe euch durch seine Kraft unterstützt, und jetzt ist die Zeit gekommen, wo ihr ihn sehen sollt. Ihr werdet mir folgen und euren Dank für die Treue erhalten. Kommt mit! Holt Fackeln und Laternen, und laßt euch durch nichts und niemand aufhalten.«
Die Männer und Frauen bewegten sich erst, als sich Grey Man herumdrehte.
Er schritt auf den Bohlen des Gehsteigs entlang, und ein jeder hörte seine hohl klingenden Tritte.
Auch die Menschen drehten sich um. Sie nahmen, ohne daß man sie dazu extra aufgefordert hätte, in Zweierreihen Aufstellung. Ein Paar stand hinter dem anderen, und sie warteten so lange, bis ihr Anführer sich an die Spitze der Prozession gesetzt hatte.
Dann gingen sie los.
Ich wollte nicht, daß sie sich zu weit von mir entfernten, deshalb löste ich mich aus der Dunkelheit des Vorbaus. Sehr rasch hatte ich das letzte Paar eingeholt.
Vor mir sah ich zwei gebeugte Rücken, die sich im Geh-Rhythmus bewegten.
Der Mann trug einen schmutzigen dunklen Anzug, die Frau einen langen Rock und eine aus kratzigem Stoff bestehende Bluse. Der Hut des Mannes lief oben spitz zu. Er erinnerte mich an die Kopfbedeckung eines Zauberers.
Überhaupt trugen die Männer ähnliche Hüte, und die Frauen hatten Tücher um ihre Köpfe geschlungen.
Es hatte niemand einen entsprechenden Befehl gegeben, trotzdem gingen sie im Gleichschritt. Keiner fiel aus der Rolle oder stemmte sich gegen das Schicksal an, und das war bezeichnend.
Der Grey Man hielt sie voll und ganz unter Kontrolle. Ich sah allmählich klarer, und ich wußte auch, wo er die Menschen hinführen würde.
In den Tod!
Konnte ich da vielleicht etwas vereiteln? Eigentlich nicht, denn sie waren gestorben, aber es wäre wider meine Natur gewesen, hätte ich es nicht versucht.
Bei dem vor mir herschreitenden Paar wollte ich die Probe aufs Exempel machen, streckte meinen Arm aus und ging etwas schneller. Meine Hand näherte sich der rechten Schulter des Mannes, ich berührte sie auch, aber ich spürte keinen Widerstand.
Ich konnte durch den Mann hindurchfassen!
Jetzt erst wußte ich Bescheid. Ich befand mich zwar in der Vergangenheit, war selbst aber nicht zu einem Teil von ihr geworden, sondern stand noch in der Gegenwart.
Der Hinkefuß hatte es raffiniert angefangen. Er wußte sicherlich, daß ich eingegriffen hätte, um dies aber zu vermeiden, hielt er mich außerhalb der anderen Zeitzone. Geschickter konnte man einen Gegner nicht ausschalten und ihn gleichzeitig an einem Ereignis teilhaben lassen. Ich ging trotzdem schneller, weil mir der erste Beweis noch nicht genügt hatte, und ich schaffte es tatsächlich, in den Pulk der Menschen hineinzugehen, ohne daß sie mich wahrnahmen oder daß mir etwas passierte. Ich war voll integriert, gehörte dazu und war trotzdem ein Fremdkörper. Wenn ich durch die Gestalten schritt, konnte ich auch ihre Gesichter erkennen.
Nur wenige trugen Fackeln bei sich. Ihr Schein, vom Wind bewegt, huschte über die angespannten Gesichter der Leute und zeigte die Hörigkeit, die sie ihrem Anführer entgegenbrachten. Für ihn wären sie im wahrsten Sinne des Wortes durch das Feuer gegangen. Hinter ihnen lag ein hartes Leben, und sie würden einen
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