Deathbook (German Edition)
erschoss er mit einem alten Repetiergewehr, das sein Vater zur Jagd benutzt hatte, seine Frau. Mit einem gezielten Schuss in den Hinterkopf streckte er sie im Wintergarten nieder. Sie arbeitete gerade an einem Ölbild, einer roten Tulpe auf weißem Grund. Was sich in ihrem Kopf befand, spritzte auf die Leinwand.
Karl Christian Rochus saß keine zwei Meter entfernt auf seinem grünen Spielteppich mit den aufgedruckten Straßen und parkte fein säuberlich seine Matchbox-Autos ein.
Sein Vater sperrte ihn in den Vorratsraum neben der Küche und schloss die Tür ab.
Danach setzte Heinrich sich im Salon vor den Kamin, leerte eine Flasche Scotch, steckte sich den Lauf des Gewehrs in den Mund und setzte auch seinem Leben ein Ende.
Da die Villa abgelegen lag und weder Heinrich noch Constance einem geregelten Arbeitstag nachgingen, saß der kleine Karl sieben Tage im Vorratsraum.
Er ernährte sich von den Vorräten. Da er die Konservendosen nicht öffnen konnte, hatte er Schinken und Salami gegessen, die dort zum Trocknen aufgehängt waren. Außerdem eingemachte Pflaumen. Und da er nichts anderes gefunden hatte, hatte er die Flüssigkeit aus den Einmachgläsern getrunken. Das hatte zu starkem Durchfall geführt.
Der Betreiber einer Galerie, der mit Frau Künstler über eine Ausstellung sprechen wollte, hatte den Jungen gefunden und ausgesagt, das Kind sei in einem furchtbaren Zustand gewesen. Verängstigt, verdreckt und dehydriert. Der Gestank in dem winzigen Vorratsraum sei unvorstellbar gewesen.
Nur wenige Monate später kam der kleine Karl in eine Pflegefamilie. Dort blieb er vier Monate. Die Pflegeeltern fanden es unheimlich, dass der Junge nicht sprach und immer nur seine Autos hin und her schob oder mit Wachskreide Tulpenbilder malte, die er dann mit roten Strichen ruinierte. Außerdem begann er sofort zu schreien, sobald sich hinter ihm eine Tür schloss.
Da er aber mit seinem blonden Haar und den blauen Augen ein niedlicher, wenn auch ziemlich rundlicher kleiner Junge war, fand sich schnell eine andere Pflegefamilie. Albert und Erika Quindt waren Mitte vierzig und kinderlos. Erika konnte selbst keine Kinder bekommen. In den vergangenen zwanzig Jahren hatten sie ein florierendes Bestattungsunternehmen aufgebaut, doch weil der Tod Erika auf Dauer traurig stimmte, wünschten sie sich junges Leben im Haus.
Sie bekamen Karl und stellten sich auf seine Marotten ein. Statt Türen gab es fortan Vorhänge im Haus. Nachdem der kleine Karl ein Jahr bei den beiden verbracht hatte, stellten sie einen Antrag auf Adoption. Diesem wurde entsprochen, und aus Karl Christian Rochus Künstler wurde Karl Quindt.
Aktenkundliche Erwähnung fand der Junge erst wieder, als er 2004 als einer der Ersten den neugeschaffenen Ausbildungsberuf zur Bestattungsfachkraft antrat. Da war er siebzehn. Drei Jahre später schloss er im familieneigenen Betrieb die Ausbildung mit der Gesellenprüfung ab.
Zwei Jahre später trennten sich Albert und Erika. Karl folgte seinem Vater nach Dänemark, ins Land seiner Großeltern, in dem er Familie hatte. Die europäische Freizügigkeit gestattete es Albert, seinen Beruf fortan dort auszuüben. Das tat er bis zu seinem Herzinfarkt 2012 mit mäßigem Erfolg. Karl bestattete seinen Vater in Dänemark und kehrte nach Deutschland zurück. Erika hatte den Betrieb in den vergangenen zwei Jahren modernisiert und auf dem alten Betriebsgelände ein neues Gebäude errichten lassen. Doch es lief nicht mehr so gut. Die billige Konkurrenz machte das Geschäft kaputt. Zudem litt Erika unter rasch fortschreitender Demenz. Karl brachte seine Mutter in ein Pflegeheim und übernahm den Betrieb.
Ich lehnte mich zurück und las die letzten zwei Seiten noch einmal durch.
Wenn man als Schriftsteller oft gelesene Motivationsstränge benutzt, werden sie einem später wie feuchte Lappen um die Ohren gehauen. Ein traumatisches Erlebnis in der Kindheit eines Serienmörders – das ist nun wirklich abgenutzt. Hunderttausend Serienkillerromane und -filme basieren darauf. Aber warum? Die Antwort ist schlicht: Weil es die Wahrheit ist. Nicht jedes traumatisierte Kind wird zum Mörder. Aber die meisten Mörder wurden als Kind traumatisiert.
Ich wollte das Risiko eingehen, ich blieb bei der Wahrheit und ließ es so stehen, auch wenn es wie ein Klischee wirkte. Ich hatte keine Wahl, denn das war es, was über Karl Christian Rochus Quindt bekannt war. Zwischen diesen Zeilen klafften jedoch riesige Löcher, Abgründe geradezu. Sie
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