Deathbook (German Edition)
Und Sie, Herr Winkelmann, haben nichts Besseres zu tun, als diese Macht auf sich aufmerksam zu machen.
Idiot!
Ich las die Mail dreimal. Beim ersten Mal war ich verwundert, beim zweiten verärgert, beim dritten Mal enttäuscht. Das Blog «Posten und Sterben» war so krude und voller Hirngespinste, da passte diese Mail ganz wunderbar dazu. Genau solche Gedanken und Worte erwartete man von einer Person, die einen solchen Blog verantwortete. Dahinter steckte keinerlei Substanz, kein Wissen, nur blöde Mutmaßungen und wahrscheinlich ein Weltbild voller Verschwörungstheorien. Wahrscheinlich glaubte der Verfasser auch an Außerirdische. Ein harmloser Spinner, wie es viele gab. Den persönlichen Angriff auf mich fand ich allerdings ziemlich unpassend, deswegen tippte ich eine kurze Antwort-Mail.
Andreas Winkelmann
An: Posten und Sterben
Betreff:
Lieber Freund. Ohne Sie beleidigen zu wollen – was Ihnen umgekehrt ja offenbar leichtfällt –, möchte ich Ihnen dringend raten, sich in professionelle Hände zu begeben. Ich kann Ihnen einen guten Therapeuten empfehlen. Womöglich kann er Ihnen nicht helfen, aber er kann Sie wenigstens davon abhalten, andere Menschen zu belästigen.
Mit den besten Wünschen
Andreas Winkelmann
Ich wäre gern unflätig geworden, aber man musste aufpassen heutzutage. Es war ja durchaus möglich, dass dieser Spinner meine Mail auf seinem Blog veröffentlichte.
Die Mail ärgerte mich mehr, als sie es sollte. Ich hätte sie nicht lesen dürfen. Zumal ich Wichtigeres zu tun hatte.
Komm, konzentrier dich, rief ich mich zur Ordnung. Ich löschte die Mail und loggte mich bei Google ein.
Mast auf Dato, tippte ich ein.
Und bekam Millionen Treffer.
Auf den ersten beiden Seiten fand ich nur Berichte über Sendemasten, Handynetze, Bullenmast, Segelschiffe mit zwei Masten und einige andere mehr.
Anfangs versuchte ich, über «Sendemasten» eine Verbindung zum Internet und damit zu Kathis Online-Aktivitäten herzustellen. Aber das erwies sich als Unsinn. Nach einer halben Stunde war ich bereits frustriert. So kam ich nicht weiter. Ich presste die Hände gegen die Schläfen und massierte sie. Nein, das hatte keinen Sinn. Vielleicht sollte ich versuchen, was ich in den letzten Tagen bereits häufiger versucht hatte: Hilfe via Facebook zu bekommen. Das Schwarmwissen zu nutzen.
Ich loggte mich in meinen Account ein.
Meine letzte Aktion war es gewesen, den Blog «Posten und Sterben» in meinen Status zu setzen. Ich hatte meine Facebook-Freunde aufgerufen, mir zu schreiben, was sie davon hielten. Die Meinungen reichten von Zustimmung bis Ablehnung. Ich überflog sie nur. Die andere Sache war mir jetzt wichtiger.
Ich gab eine neue Statusmeldung ein.
Hallo Leute! Ich brauche schon wieder Eure Hilfe. Wisst Ihr, was «Mast auf Dato» bedeutet? Oder gibt es etwas, was so ähnlich klingt? Es sollte mit einem Totenkopf in Verbindung stehen.
Ich klickte auf «Posten», ließ mich gegen die Lehne des Drehstuhls sacken und behielt den Bildschirm im Auge. Würde um dieser Zeit überhaupt noch jemand reagieren?
Anima Moribunda 3 : 27
Wenn wir den Übergang nicht gesehen haben, können wir es nicht begreifen.
Ann-Christin las den Satz und dachte eine Weile darüber nach.
Sie verbrachte die dritte Nacht in Folge im World Wide Web und war in einem der zahllosen Chats gelandet, die sich mit dem Thema Tod und Sterben befassten. Vor ein paar Minuten war sie auf einen Chat-Partner gestoßen, der sie zu verstehen schien. Außerdem schrieb er, im Gegensatz zu den meisten anderen, vollständige Sätze ohne Schreibfehler.
Ann-Christin 3 : 29
Was meinst du mit Übergang?
Sie ahnte zwar, worauf ihr Chat-Partner mit dem geheimnisvollen Nickname hinauswollte, wollte aber sichergehen.
Anima Moribunda 3 : 31
Was ich meine, ist: Wir können nicht begreifen, was wir nicht sehen. Der Verstand allein reicht nicht. Ich sehe einen lebendigen Menschen, ich sehe einen toten Menschen, aber wenn ich nicht dabei war, wie er gestorben ist, dann begreife ich den Tod nicht. Das ist es, was dich belastet.
Ann-Christin nickte. Ja, ihr Chat-Partner hatte recht. Immer noch war es so, dass sie, wenn sie an ihre Mutter dachte, deren lebendiges Gesicht vor sich sah. Ihr totes Gesicht dagegen war vollkommen aus ihrer Erinnerung getilgt. Und weil das so war, wollte sie immer noch nicht wahrhaben, dass Mama tot war. Als sie sich vor ein paar Stunden mit dem Laptop auf den Beinen aufs Bett gesetzt hatte, waren die ersten Worte, die sie
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