Deathbook (German Edition)
bei Google eingegeben hatte: Mama, bist du da?
Und auch dafür hatte Google einen Treffer gefunden. Zum Beispiel einen Bericht in der «Zeit online». Er handelte davon, wie eine Tochter mit dem viel zu frühen Tod ihrer Mutter umging. Der Bericht selbst, aber auch diese Parallele hatte Ann-Christin schockiert. Es war fast so, als habe das Internet auf alle ihre Gedanken und Fragen eine Antwort.
Das alles war so verwirrend. Ann-Christin konnte sich nicht noch mehr ansehen, ihr Kopf war schon ganz voll davon. Deshalb war sie froh, über diesen Chat mit jemandem sprechen zu können, der ihre Gedanken nachvollziehen konnte, ja, sie vielleicht sogar teilte.
Ann-Christin 3 : 35
Also bist du der Meinung, wir müssen einem Menschen beim Sterben zusehen, sonst können wir den Tod nicht begreifen?
Anima Moribunda 3 : 35
Ja.
Ann-Christin 3 : 35
Aber dann gibt es nichts, was ich dagegen tun kann. Ich habe nicht gesehen, wie meine Mama gestorben ist, also werde ich ihren Tod nie begreifen.
Anima Moribunda 3 : 36
Vielleicht musst du nicht zwangsläufig deiner Mutter beim Sterben zugesehen haben, um zu begreifen.
Ann-Christin 3 : 36
Wie meinst du das?
Anima Moribunda 3 : 37
Ich habe einen ähnlichen Verlust erlitten wie du, habe meine Mutter sehr früh verloren. Ich habe lange Zeit nicht verstehen können, was ihr zugestoßen ist. Aber dann ist der Tod in einer weiteren Erscheinungsform in mein Leben getreten, und ich habe angefangen, Fragen zu stellen. Dabei habe ich etwas Interessantes herausgefunden. Willst du es hören?
Ann-Christin 3 : 37
Ja, bitte.
Anima Moribunda 3 : 37
Du kannst es begreifen, wenn du
irgendeinem
Menschen beim Sterben zusiehst. Es spielt keine Rolle, wer es ist.
Ann-Christins Hände schwebten über der Tastatur, aber sie zog sie zurück. Konnte das stimmen? Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es nicht sein konnte. Irgendjemanden beim Sterben zu beobachten würde ihr niemals helfen, den Tod ihrer Mutter zu akzeptieren.
Ann-Christin 3 : 38
Das kann ich mir nicht vorstellen.
Anima Moribunda 3 : 38
Nein, das kannst du nicht. Dafür fehlt dir die Erfahrung. Der menschliche Verstand ist zu klein, um es sich vorstellen zu können. Früher, in der Antike, lebten Menschen, die sich kraft ihrer Gedanken alles vorstellen und erklären konnten, aber seit die Bilder uns beherrschen, haben wir diese Fähigkeit verloren. Wir müssen sehen, um zu begreifen. Aber ich glaube, so weit bist du noch nicht, Ann-Christin.
Ann-Christin 3 : 39
Aber du bist so weit?
Anima Moribunda 3 : 39
Ja, und wenn du willst, lasse ich dich teilhaben.
A ls ich wieder zu mir kam, lag ich mit dem Kopf auf den linken Arm gebettet auf dem Schreibtisch. Ich blinzelte und sah mich um. Mein Blick war verschwommen, und für ein paar Sekunden wusste ich nicht, wo ich mich befand. Der Bildschirm vor mir war schwarz, er war längst in den Ruhemodus übergegangen. Dafür dämmerte es bereits vor dem Fenster. Die Sonne ging auf.
Ich erhob mich vom Bürostuhl, reckte und streckte mich und spürte sofort, dass mein Rücken völlig verspannt war. Es kam nicht häufig vor, dass ich am Schreibtisch einschlief. Wenn es geschah, dann nur für zehn Minuten, maximal eine Viertelstunde. Aber wenn ich mich recht erinnerte, hatte ich jetzt mehr als zwei Stunden in dieser verdrehten Haltung geschlafen.
Unfassbar.
Ich wankte in die Küche und bereitete mir einen starken Kaffee zu. Die Maschine gurgelte und zischte, und ich spritzte mir im Bad kaltes Wasser ins Gesicht. Mein Abbild im Spiegel war fast eine Beleidigung: In die rechte Wange hatte sich das Maschenrelief des Pullovers eingegraben, den ich trug. Es sah aus, als hätte mir jemand einen Flicken ins Gesicht genäht. Meine Augen waren gerötet, die Frisur im Eimer. Ich sah exakt aus wie die Psychopathen, die ich gern in meinen Geschichten beschrieb.
Ich wandte mich ab, ging in die Küche zurück, nahm die Tasse aus der Kaffeemaschine und kehrte damit an meinen Arbeitsplatz zurück. Nach und nach kam die Erinnerung daran zurück, was ich vor ein paar Stunden dort getrieben hatte.
Mast auf Dato.
Ausgerechnet diese bescheuerten Worte hatten meinen Tiefschlaf schadlos überstanden. Ich war gespannt, ob mir meine Facebook-Freunde weiterhelfen konnten.
Besonders viele Kommentare hatte ich auf meine Anfrage nicht erhalten, aber es war ja auch mitten in der Nacht gewesen. Erstaunlich, dass sich überhaupt jemand gemeldet hatte. Denn zusätzlich
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