Deathkiss - Suess schmeckt die Rache
Wie bei Strickzeug: Man zieht an einem Faden, und alles fängt an, sich aufzulösen.«
»Dann ziehen Sie doch einen Faden«, versetzte Shannon gereizt. Sie war die unausgesprochenen Vorwürfe, die Anspielungen, die sie während der Vernehmung herausgehört hatte, herzlich leid.
»Ihre Brüder – standen sie einander nahe?«
»Wie bitte?«
»Die Zwillinge. Hingen sie aneinander?«
»Sehr.« Sie nickte, blieb jedoch auf der Hut. Nur weil die Fragen unverfänglicher wurden, durfte sie sich nicht in Sicherheit wiegen. Nicht gegenüber Paterno.
»Hatten die Zwillinge auch engeren Kontakt zu anderen Kindern?«
»Gelegentlich. Besonders Neville. Er ist … war von den beiden der Aufgeschlossenere.«
»War?«, wiederholte Paterno. Der Schaukelstuhl knarrte, als Rossi sich bewegte. »Sie glauben, dass er tot ist?«
Shannon schüttelte nur stumm den Kopf.
»Er ist einfach verschwunden. Gleich nach dem Brand, in dem Ihr Mann ums Leben kam.«
»Nun ja … Etwa drei Wochen später, glaube ich.«
»Sie haben ihn in diesen drei Wochen gesehen?«
»Natürlich.«
»Worüber haben Sie mit ihm geredet?«
»Ich kann mich nicht mehr erinnern! Alles ist irgendwie so verschwommen.« Sie hob hilflos die Hände, dachte daran zurück, wie entsetzt sie gewesen war, als sie vom Tod ihres Mannes erfuhr. Nein, sie hatte ihn nicht mehr geliebt, aber den Tod hatte sie ihm wahrhaftig nicht gewünscht. Sie wollte nur, dass er sie in Ruhe ließ, aufhörte, sie auf jede nur erdenkliche Art zu verletzen. Und dann war er im Feuer umgekommen. Der Verdacht, sie habe ihn umgebracht oder sei wenigstens an dem Mord beteiligt gewesen, hatte sie fast zur Verzweiflung getrieben. Ja, sie hatte Neville während dieser Zeit gesehen, aber ob sie mit ihm geredet hatte, und wenn ja, worüber? Sie wusste es nicht. Ihre Brüder hatten allerdings mit ihm gesprochen, soviel sie wusste. Der Letzte, der ihn gesehen hatte, war Oliver, und das war kurz vor Olivers Zusammenbruch und seiner Einweisung in die psychiatrische Klinik gewesen, wo er zu Gott fand. Wo Gott auf seine Gebete hin zu ihm gesprochen und ihn zum Priester berufen hatte.
Offensichtlich war Paterno über all das informiert. Ebenso offensichtlich glaubte er kein Wort davon.
»Ist das nicht sonderbar?«, bohrte der Detective nach. »Dass Ihr Bruder einfach so verschwunden ist?«
»Höchst sonderbar.« Sie seufzte, und ihr Blick wanderte zum Fenster. Draußen brach gerade die Nacht herein. »Ich … ich verstehe es nicht, habe es nie verstanden. Aber damals hatte ich auch meine eigenen Sorgen.«
»Wegen der Mordanklage.«
»Ja!« Sie funkelte ihn böse an, und der Zorn, den sie damals auf den Staatsanwalt, die Polizei und das ganze verdammte System gehabt hatte, regte sich erneut. »Mein gesamtes Leben wurde auf den Kopf gestellt. Mein Mann war tot. Ermordet. Es wurde behauptet, er sei ein Serien-brandstifter gewesen, und ich wurde angeklagt, ihn umgebracht zu haben. Zudem verschwand auch noch mein Bruder, und niemand wusste, wo er war.« Sie beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Hören Sie, Detective, das alles ist Schnee von gestern. Ich weiß nicht, was aus Neville geworden ist. Niemand in unserer Familie weiß es. Sie kennen natürlich meinen Bruder Shea, denn Sie haben diesen Fall ja von ihm übernommen, und mein Bruder Aaron ist Privatdetektiv. Beide haben, wie auch alle anderen Familienmitglieder, versucht, Neville ausfindig zu machen.«
»Ohne jeden Erfolg?«
»Genau.« Sie sah ihn an. Ihre Kopfschmerzen kehrten zurück. »Ich dachte, Sie wollten mir Fragen zu dem Mord an Mary Beth stellen.«
Er maß sie mit seinem Blick – geduldig, methodisch, unerschütterlich.
»Wie stand Mary Beth zum Tod ihres Cousins und der Mordanklage gegen Sie?«
»Sie gab mir die Schuld«, gestand Shannon. »Ebenso wie die gesamte Familie Carlyle, insbesondere Liam. Er und Ryan waren gleichaltrig, spielten in derselben Football-Mannschaft, waren beste Freunde.«
»Und Ihr Bruder Robert gehörte auch dazu.«
»Robert ging in dieselbe Klasse, ja.« Sie nickte, setzte sich resigniert wieder in den Sessel. Sie würde wohl noch ein paar weitere Fragen über sich ergehen lassen müssen.
»Eine eingeschworene Clique?«
»Meistens.« Die High-School-Zeit schien Generationen zurückzuliegen.
»Mary Beth hat vor Gericht als Zeugin ausgesagt.«
Shannon schloss die Augen. »Das haben sie alle.« Sie sah Mary Beth im Zeugenstand vor sich, als sie mit tränennassen Augen aussagte,
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