Deathkiss - Suess schmeckt die Rache
überquerte er den Rasen, war auf dem Weg zur Kirche ein paar Sekunden lang ohne Deckung.
Sieben, acht, neun …
Sein Atem ging unregelmäßig, sein Herz hämmerte erwartungsvoll, als er nach dem riesigen Türknauf griff.
Zehn, elf, zwölf …
Der Zeitpunkt war gekommen.
Ein Adrenalinstoß schoss ihm ins Blut.
Beim letzten Glockenschlag öffnete er die Tür zur St.-Benedictine-Kirche. Geräuschlos schlüpfte er hinein.
Es war ein schauderhafter Tag gewesen.
Lügen. Verrat. Ehebruch. Grausamkeit. Und Mord.
Um ihn herum wogte die Sünde, während er sich seiner Mutter und seinen Geschwistern widmete. Um Trost zu spenden, um zu beruhigen. Aber es gab weder Trost noch Ruhe und auch nicht viel Zeit für Trauer um den Verlust und geflüsterte Gebete. O nein …
Olivers Magen hob sich, es würgte ihn, als er an seinen Besuch in dem alten Haus an der St. Marie Avenue dachte.
In gedämpftem Ton wurde besprochen, was zu tun war. Wie man ›mit der Situation umgehen‹ sollte. Oliver zitterte innerlich, wusste, dass das, was sie planten, ganz und gar falsch war. Und trotzdem besaß er nicht die Charakterstärke, die Wahrheitsliebe und das Vertrauen in Christi Gnade, auf seinem Weg weiterzugehen. Deshalb hatte er sich hierher zurückgezogen, an seinen Zufluchtsort, in die Kirche, in der er so oft um den Mut gebetet hatte, den er nie aufbringen würde.
Die Last der Falschheit lag schwer auf seiner Seele. Er schluckte krampfhaft. Es war an der Zeit, den Lügen ein Ende zu machen, die Wahrheit auszusprechen, aufrecht zu stehen und den Skandal, die Strafe hinzunehmen.
Natürlich würde ihm dann die Priesterweihe versagt, vielleicht wurde er sogar seiner Sünden wegen exkommuniziert, aber seine Seele musste reingewaschen werden.
Er war schwach.
Ach, Vater im Himmel, so schwach.
Vielleicht war der Tod die einzige Lösung, dachte er, zündete ein paar Kerzen an und sah zu, wie die kleinen Flammen flackernd brannten. Wenn er seine Sünden beichtete, um Absolution betete, ließ der Herrgott ihn vielleicht doch in seinen Himmel ein. Er war schließlich ein gnädiger Gott.
Bestimmt wäre der Tod besser als diese endlose Qual auf Erden. Er hatte es schon einmal versucht … Aber jetzt … Durfte er eine Todsünde begehen? Wer würde ihm die Beichte abnehmen? Wer würde ihn lossprechen, bevor er starb? Pater Timothy?
Herr im Himmel, bitte … Hilf mir.
Er lauschte dem Glockenklang und fiel auf die Knie, auf den harten Steinboden der Kirche mit ihrer gewölbten Decke, den hohen Buntglasfenstern mit Bildern der Kreuzwegstationen und dem Altar. Süßer Weihrauchduft hing in der Luft und mischte sich mit seinem Körpergeruch, denn er schwitzte vor Nervosität. Er benötigte Führung und Buße, etwas, das ihn seinen Weg deutlich erkennen ließ, eine Möglichkeit der Absolution von so vielen Sünden. Er bekreuzigte sich hastig, spürte das Gewicht des Rosenkranzes in der tiefen Tasche seiner Jacke. »Vater im Himmel, vergib mir. Bitte, ich flehe dich an, gib mir die Kraft, ein Ende zu machen.« Er kämpfte gegen die Tränen und gegen die Dunkelheit, die in sein Bewusstsein dringen wollte. Depression und Angst rangen um seine Seele, und er war so müde, so erschöpft von der Last der Sünden, die er drei lange Jahre mit sich schleppte, dass er nicht wusste, wie er weiterleben sollte.
Als er glaubte, hinter sich Schritte zu hören, blickte er sich um. Er strengte Augen und Ohren an, doch niemand kam. Er war allein, war lediglich nervös, rat- und hilflos. Die Kerzen schienen sich zu bewegen, er sah eine Maus zwischen den Bänken hindurchhuschen und in einem kleinen Mauerriss verschwinden. Wieder einmal bildete er sich Dinge ein. Erschrak vor seinem eigenen Schatten. Ließ den Wahnsinn in sein Leben einsickern.
So darfst du nicht denken. Gib der Angst, dem Hass nicht nach. Denk an Neville, der deine andere Hälfte war, äußerlich völlig gleich, innerlich jedoch so ganz und gar verschieden.
Bei dem Gedanken an seinen Zwillingsbruder begann Oliver zu weinen.
Hör auf, zeig endlich Rückgrat. Gib dem Satan keine Macht über dich, lass dich nicht deiner Schwäche wegen wegsperren, in die Psychiatrie, an einen Ort, wo Träume zerbrochen und Leben vernichtet werden.
Er erinnerte sich an ›Our Lady of Virtues‹. An die Dunkelheit, die durch die Flure kroch, die Geheimnisse hinter verschlossenen Türen, das allgegenwärtige Böse, das denen auflauerte, die das Unglück hatten, an diesem Ort leben zu müssen.
»Erlöse
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