Deathkiss - Suess schmeckt die Rache
den Kopf. »So war es nicht.«
»Wir haben uns in jener Nacht im Wald getroffen«, fiel Shea seinem Bruder mit fester Stimme ins Wort. »Wir beschlossen Ryans Tod. Und er ist gestorben.«
»Ihr habt ihn umgebracht«, wiederholte sie entsetzt.
»Neville hat ihn umgebracht«, sagte Shea leise. »Und dann festgestellt, dass er hier nicht bleiben konnte, dass sein schlechtes Gewissen ihn in den Wahnsinn trieb.«
»Ihr wisst, wo er sich aufhält?«
Shea schüttelte den Kopf. Die übrigen Brüder interessierten sich plötzlich rege für ihre Bierdosen.
»Neville hat Ryan umgebracht«, stellte Shannon fest, »und ihr alle wusstet davon. Ihr hattet es zugelassen, sogar gutgeheißen. Als ob ihr Gott spielen könntet oder … oder Richter und Geschworene sein und beschließen, wer leben und wer sterben soll.« Sie stand so hastig auf, dass ihre ungeöffnete Bierdose umkippte und über die Tischplatte rollte. »Ich kann es nicht fassen«, flüsterte sie. Dann dämmerte ihr eine weitere Erkenntnis. »Deshalb ist Oliver durchgedreht und in der Psychiatrie gelandet, nicht wahr?«
»Oliver war schon immer schwach«, erwiderte Shea.
»Sensibel zu sein hat nichts mit Schwäche zu tun!« Shannon konnte es nicht fassen, dass diese Mörder ihre Brüder waren. »Und ihr habt tatenlos mit angesehen, wie ich verdächtigt und angeklagt wurde. Ihr, meine eigenen Brüder, die mich angeblich immer beschützen wollten, ihr habt das zugelassen.«
»Du wärest niemals verurteilt worden«, versicherte Shea. »Die Argumentation der Anklage war mehr als schwach. Ein Wunder, dass der Fall überhaupt vor Gericht kam. Wenn du verurteilt worden wärest, hätten wir uns gestellt.«
»Und diese wilde Geschichte aufgetischt, Neville sei der Täter und spurlos verschwunden?«
»Shannon …«, versuchte Robert sie zu beschwichtigen, doch sie hörte nicht auf ihn.
»Es ist abscheulich, verbrecherisch und durch und durch schlecht«, fauchte sie. »Und … jetzt? Was? Habt ihr wieder angefangen?«
»Nein!«, antwortete Robert mit Nachdruck.
»Wer ist dann der Täter? Wer legt diese verdammten Brände?«, wollte sie wissen. Sie kochte vor Wut. »Wer spielt jetzt Richter und Gott und tötet die Menschen, die uns am nächsten stehen? Wer hat meine Tochter in seiner Gewalt? Wer hat Oliver und Mary Beth und Blanche Johnson umgebracht?«
Ihre Brüder schwiegen.
»Wer?«, fragte sie noch einmal. Shea hob eine Hand.
»Wir wissen es nicht, Shannon. Ich habe alles gesagt, was ich weiß, und ich denke, jetzt sollten wir mit Detective Paterno sprechen.«
»Nicht so hastig, Shea. Wir sollten uns erst darüber einigen, was ihr aussagen wollt und welche Absprachen vorher nötig sind«, wandte Pete ein.
Shannon verließ die Terrasse. Sie hatte genug gehört. Ihr Kopf dröhnte wieder, und sie konnte den abscheulichen Pakt ihrer Brüder, die verzweifelten Versuche des Anwalts, ein Schuldeingeständnis zu verhindern, keine Sekunde länger ertragen. Sie stieg in ihren Mietwagen, wendete vor Aarons Haus und fuhr aus der Stadt hinaus, vorbei an gepflegten Rasenflächen und Wohnungen, in denen man sich gerade zum Abendessen oder zum Fernsehen niederließ oder vernünftige Gespräche führte, in denen das Leben in normalen Bahnen verlief.
Normal.
Sie bezweifelte, dass es für sie jemals wieder so etwas wie Normalität geben würde.
Paterno saß zu Hause an seinem Schreibtisch. Die Eiswürfel schmolzen in seinem Drink, während er den Autopsiebericht von Ryan Carlyle studierte. Er wollte die Erkenntnisse des Gerichtsmediziners über Carlyle mit den Berichten über Blanche Johnson, Mary Beth Flannery und Oliver Flannery vergleichen. Nachdem er ein paar Beziehungen hatte spielen lassen, war der Gerichtsmediziner bereit gewesen, Olivers Autopsie vorzuziehen. Es lagen noch nicht alle Ergebnisse der toxikologischen Untersuchungen vor, doch der vorläufige Autopsiebericht war so gut wie vollständig.
»Gut genug für die Regierung«, scherzte er. Sein Abendbrot – eine reichliche Portion Hühnchen mit Pommes frites – stand noch unberührt auf dem Küchentresen. In der Spüle stapelte sich Geschirr, doch das störte ihn nicht. Heute Abend hatte er wahrhaftig andere Sorgen.
Er breitete die Kopien der Berichte auf seinem Schreibtisch aus und verglich sie miteinander. Zwei Frauen und zwei Männer. Auf ganz unterschiedliche Weise ermordet.
Er trank einen Schluck Whiskey, der ihm angenehm den Magen erwärmte. Dann setzte er seine Lesebrille auf. Gewöhnlich
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